… denn wir wissen nicht, was wir tun

Ein Bekannter sprach neulich wiederholt von einem funktionierenden Rechtsstaat. Er glaube bestimmte Dinge nicht bzw. wolle sie nicht glauben, weil sie in einem funktionierenden Rechtsstaat nicht sein können. Wir sind ja nicht in den USA. Oder Russland.

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Ja, schon mal gehört. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es keinen „funktionierenden Rechtsstaat“ gibt.

Nicht in diesem Sinne. Es gibt solche, die besser funktionieren und solche, die schlechter funktionieren. Jedes System ist immer nur so gut, wie die Menschen, die es ausführen. Und die machen es mir gerade sehr schwer, an sie zu glauben. Daran, dass sie gerecht sein können. Daran, dass sie wissen, was sie tun.

Wir sprechen hier nicht von einem jugendlichen James Dean. Er ist ein Rebel Without a Cause. Er hat also gar keinen Grund zu rebellieren, weiß es aber nicht besser. Das setzt doch voraus, dass es Menschen gibt, die es besser wissen. Seine Eltern zum Beispiel. Und das Gesellschaftssystem. Alles wogegen er in seinem jugendlichen Unwissen rebelliert. Aber eigentlich wissen wir alle nicht, was wir tun. Wir glauben es nur.

Und es gibt Menschen, die müssen vielleicht an das Schlechte im Menschen glauben, weil sie ihren Job sonst nicht machen könnten. Henker zum Beispiel. (Kann man jemanden töten, ohne überzeugt zu sein, dass er schuldig ist? Ich weiß es nicht. Zum Glück.)

Und dann gibt es Menschen, die müssen (auch) an das Gute im Menschen glauben. Sonst könnten sie ihren Job nicht machen. Moralphilosophinnen zum Beispiel. Wie könnte ich überhaupt über Moral reden, wenn ich nicht an etwas Gutes glauben könnte. Das heißt ja nicht, dass ich recht habe. Dass heißt auch nicht, dass ich nicht an das Schlechte im Menschen glaube. Es heißt aber, dass ich mit Gründen gegen die Todesstrafe argumentieren kann:

Es gibt keine guten und schlechten Menschen. Es gibt Menschen, die Gutes oder Schlechtes tun. Das ist ein Unterschied. Und solange ich nicht weiß, dass eine Person etwas Schlechtes getan hat, weil ich zum Beispiel nicht gesehen habe, wie sie jemanden getötet hat, habe ich meiner Ansicht nach nicht das Recht, sie zu richten. Ich kann sie verurteilen, moralisch, emotional. Aber sie zu richten geht zu weit. Denn vielleicht weiß ich ja nicht mal das, was ich scheinbar gesehen habe. Dass die Berichte von Augenzeug*innen stark voneinander abweichen, wissen wir alle aus den unzähligen Krimiserien.

Ist eigentlich schon mal jemandem aufgefallen, dass jede zweite Sendung Blue Bloods oder Criminal Minds, Death in Paradies oder Mord mit Aussicht heißt? Oder – mein Anti-Favorit – zum True Crime-Genre zählt?

Ich sehe auch gerne Death in Paradies, weil ich das Südseeflair mag. Und ja, das ist ein bisschen perfide. Ich mag aber auch, dass die Morde gar nicht im Fokus stehen und entsprechend nicht besonders blutig dargestellt werden, sondern die Aufklärung, das Rätsel-Lösen. Whodunit – also: Wer hat‘s getan? Wie schon bei Sherlock Holmes. Obwohl sich bei dem bereits etwas zeigt, was wiederum in den True Crime-Serien auf die Spitze getrieben wird. Die Wikipedia beschreibt dieses Genre folgendermaßen:

„Es widmet sich der Darstellung realer Kriminalfälle, überwiegend der von Mordfällen oder anderen Straftaten, die sich entweder durch besondere Schwere oder aufgrund einer besonders ungewöhnlichen, perfiden, abscheulichen oder anderweitig Aufsehen erregenden Vorgehensweise der Täter für die Inszenierung als True-Crime-Story eignen.“

Nun ließe sich sagen, dass wir uns so etwas gerne anschauen, weil es uns versichert, dass das Rechtssystem funktioniert. Am Ende werden die bösen Menschen bestraft. Und wir freuen uns alle, wenn die böse Hexe sich in glühenden Schuhen zu Tode tanzen muss. Nein, das ist nicht perfide…

Das Problem ist, dass es keine bösen Menschen gibt. Wie gesagt, es gibt Menschen, die furchtbare Dinge tun. Aber das ist ein Unterschied. Und die bösen Hexen, die im Feuer zu Tode tanzen mussten, sind keine Märchenfiguren. Die gab es wirklich. Und sie waren unschuldig. Sage ich. Weil ich nicht an Hexerei glaube. Von Wissen ist hier wieder nicht die Rede. Und ebenso werden noch immer unschuldige Menschen zum Tode verurteilt. Nicht mehr durch den Scheiterhaufen, sondern den elektrischen Stuhl. Und ja, ich finde, beides ist gleichermaßen mittelalterlich.

Ende meines Plädoyers.

Neil Gaiman hat eine Graphic Novel geschrieben, die die Geschichte von Schneewittchen aus Sicht der Stiefmutter erzählt. Der Stiefmutter, wohlgemerkt, nicht der bösen Hexe. Ich bin nicht zimperlich, aber ich konnte anschließend eine Weile nicht gut schlafen.

Dass wir uns eigentlich nie ganz sicher sein können, wer Schuld woran trägt, zeigen auf den zweiten Blick weniger die Krimiserien, in denen am Ende Gut und Böse doch wieder so eindeutig sind, wie im Märchen. Ein besseres Beispiel ist der japanische Film Rashōmon von Akira Kurosawa, der auf zwei Kurzgeschichten von Akutagawa Ryūnosuke basiert. Dort geht es auch um die Frage nach Gut und Böse, aber ganz anders als bei Schneewittchen. Nach diesem Film ist der Rashōmon-Effekt benannt, der beschreibt, dass verschiedene Menschen dasselbe Ereignis völlig unterschiedlich wahrnehmen und dennoch überzeugt sind, dass ihre Version so passiert ist.

Sowas verkauft sich allerdings nicht ganz so gut wie Schneewittchen und True Crime. Wahre Verbrechen. Vielleicht geht es genau darum. Die Sehnsucht nach Wahrheit und Gewissheiten. Und seien sie auch grausam. Aber sie müssen wahr und gewiss sein. Sonst wäre doch die Bestrafung der Bösen nicht gerechtfertigt.

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. In einem „funktionierenden Rechtsstaat“. Wir sind ja nicht in den USA. Oder Russland. Zum Glück.

Aber eigentlich sind wir das doch. Und das schneeweiße Mädchen muss unschuldig sein. Die Hexe ist die Böse. Da fällt mir eine Geschichte ein.

Ich hatte Anfang August einen wichtigen Termin, wortwörtlich am anderen Ende der Stadt. Corona-bedingt habe ich ein Mietauto genommen. Die Strecke hatte ich über zwei wohlbekannte Anbieter von Straßennavigation herausgesucht. Dummerweise haben beide mich direkt in die Baustellen rund um die U-Bahnstation „Bundestag“ geführt. Ich wusste Luftlinie ungefähr, wo ich hin musste und habe versucht, die Baustelle zu umfahren. An einer Stelle bog die Straße nach rechts ab, obwohl ich Luftlinie nach links musste. Nach links ging es über eine Brücke. Sah irgendwie komisch aus. Da ich aber extrem gestresst und bereits viel zu spät war, bin ich über die Brücke gefahren. Und war plötzlich ganz allein. Weit und breit keine Autos, keine Menschen. Nur zwei Polizisten vor einem großen Gebäude. Ich bin direkt neben dem Gebäude stehen geblieben, um herauszufinden, wo ich bin und vor allem, wie ich da wieder wegkomme.

Da klopft es an die Scheibe.

Ich lasse die Scheibe herunter. Der ältere Polizist sagt in strengem Ton, dass ich da sofort wegfahren muss. Ich frage, ob ich mich kurz auf die gegenüberliegende Seite des Wendeplatzes stellen kann. Er sagt: „Sie dürfen überhaupt nicht hier sein.“ Ich antworte, dass ich überhaupt nicht weiß, wo ich bin, dass ich gerade aus der Baustelle da drüben komme und nun versuche, diese zu umfahren. Dass ich in den Westteil der Stadt muss. Dabei gestikuliere ich. Greife nach meinem Smartphone, dass mich in diese missliche Lage gebracht hat.

Er wird netter, versucht mir zu helfen. Fragt, ob ich kein „maps“ auf dem Smartphone habe. Ich sage, dass dieses mich genau in die Baustelle geführt hat. Ich sage ihm, dass ich über die Brücke zurückfahre und dann einfach nochmal nachschaue. Er nickt. Ich frage noch, wo ich denn eigentlich bin, wo ich nicht sein darf.

Er antwortet: Am Bundestag.

Vielleicht ist das nur eine Geschichte. Nur ein Märchen. Vielleicht ist mir das aber auch wirklich passiert. Ich bin dann mit 45 Minuten Verspätung noch angekommen. Und habe mir anschließend ein Navi gekauft. Und viel darüber nachgedacht, warum ich eigentlich keine Angst hatte.

Hatte ich nicht. Mir war klar, dass die Lage ernst war, aber Angst hatte ich nicht. Ich hatte ja nichts Böses im Sinne. Das reicht aber nicht, um keine Angst zu haben. Nichts Böses getan zu haben, reicht nicht um angstfrei zu leben. Aber ich denke, dass ich tatsächlich aus gutem Grund keine Angst hatte. Aus demselben Grund, aus dem andere ebenso unschuldige Menschen Angst haben. Aus Erfahrung.

Ich erinnerte mich an ein Erlebnis, als ich mit 18 in meinem alten, heruntergekommenen Polo unterwegs war. Das rechte Rücklicht ging nicht mehr richtig (hatte ich gerade festgestellt), das Kassettendeck (ja, so alt war er) und die Heizung funktionierten auch nicht mehr. Da wurde ich an einer dafür bekannten Stelle auf dem Heimweg mit einigen anderen Autos herausgewunken, für eine Kontrolle.

Ich musste eine Weile warten, mir war langweilig. Ich fing an in meinem Handschuhfach nach Kassetten zu kramen, als ein Polizist auf mich zukam. Ich kurbelte das Fenster herunter, er fragte nach Führerschein und Papieren. Ich sagte „Moment“ und wollte die Kassetten wieder ins Handschuhfach stopfen. Er sagte „Stopp – was machen Sie da?“ ich sah ihn verblüfft an und sagte, ich wolle nur schnell die Kassetten wieder ins Handschuhfach tun und die Papiere herausholen. Er sagte, mit einem Grinsen, dass das sehr gefährlich sei, ich dürfe nicht ohne es vorher zu sagen in mein Handschuhfach greifen. Ich fragte warum. Weil dort ja auch eine Waffe sein könne. Ich sah ihn ungläubig an und sagte, dass ich jetzt meinen Führerschein aus meiner Tasche hole, die ich zu diesem Zweck auf den Beifahrersitz auskippte. Er grinste wieder und fragte, ob mit meinem Wagen alles in Ordnung sei. Ich antwortete, dass die Heizung nicht funktionierte und das Kassettendeck auch nicht mehr ganz. In der Hoffnung, dass er das mit dem Rücklicht nicht merkt. Hat er nicht. Erstaunlich finde ich im Nachhinein, dass das meine größte Sorge war.

Es macht mich traurig und wütend. Warum? Dafür gebe ich mal eine Stelle aus So You Want to Talk About Race von Ijeoma Oluo wieder (S. 90), die mit 16 bei einer Kontrolle gleich ins Handschuhfach gegriffen hatte, als sie nach Führerschein und Zulassung gefragt wurde. Sie erinnert sich,

wie die Hand des Polizeibeamten sofort zu seiner Waffe ging, während er „STOPP!“ rief. Als ich vor Angst erstarrte, belehrte er mich, nie in der Gegenwart eines Polizisten nach etwas zu greifen, ohne dies vorher anzukündigen. „Das ist ein sicherer Weg, um sich erschießen zu lassen, junge Dame!“ sagte er zu mir. Dann nickte er und nahm seine Hand von der Waffe, zufrieden mit dem Gefallen, den er mir erwiesen hatte, indem er ein sechzehnjähriges Mädchen nicht dafür erschossen hatte, dass es nach ihren Ausweispapieren griff.

Die Unschuldsvermutung gilt nicht für alle gleichermaßen. Dadurch verliert sie in meinen Augen ihre Bedeutung. Weil ich schneeweiß und weiblich bin, kann ich aus Versehen in die gerade viel diskutierte Sperrzone um den Bundestag fahren, ohne erschossen zu werden. Das nennt man Bias oder kognitive Verzerrung. Und die führt zu Racial Profiling. Aber wir sind ja nicht in den USA. Doch was wäre gewesen, wenn ich ein Kopftuch getragen hätte? Oder noch schlimmer, einen Bart auf dunkler Haut? Ich weiß es nicht. Und deshalb sollten wir die Todesstrafe abschaffen. Und noch einiges anderes ändern. Denn wir wissen nicht, was wir tun.

PS: Ich danke allen Polizist*innen, die jene Werte und Grundrechte verteidigen, an die ich glaube.