Warum Japaner*innen nicht immer die besseren Kantianer*innen sind

Oder: Inwieweit sollten wir unsere Freiheit tatsächlich einschränken?

In einem anderen Beitrag habe ich dafür plädiert, dass eine Japanerin die bessere Kantianerin ist. Zumindest, wenn es um Erkältungen geht. Dem Bedürfnis, alles Schlechte bei sich zu behalten, seien es negative Gefühle oder Erkältungsviren, kommt sie dadurch nach, einen Mundschutz zu tragen, wenn sie erkältet ist. Dieses Verhalten wirkt auf Nicht-Japaner*innen meist merkwürdig, ist bei genauer Betrachtung aber nicht nur sehr rücksichtsvoll, sondern auch viel vernünftiger, als in die eigene Hand zu husten und damit dann alles Mögliche anzufassen. So, wie wir es meist gelernt haben. Dem Kategorischen Imperativ hält letzteres Verhalten kaum Stand.

Im Sinne Kants ist es vernünftig, sich an (vernünftige) Gesetze und Regeln zu halten, auch wenn sie mich in meiner Freiheit beschränken. Und hier kommt der Grund, warum eine Japanerin doch nicht immer die bessere Kantianerin ist.

Denn, während die Regel, bei Erkältung und Ansteckungsgefahr im Sinne aller Menschen einen Mundschutz zu tragen, durchaus als universell vernünftige Regel angesehen werden kann, trifft dies nicht auf alle Regeln zu. Wie oft habe ich als Antwort auf mein Unverständnis, warum etwas nicht möglich ist, in Japan den Satz gehört: It’s a rule.

Ja, aber es ist eine blöde Regel!

Japan gilt ja als ein Land der Gegensätze, zwischen Moderne und Tradition. Manche Traditionen sind eigentlich ganz sinnvoll. Es erscheint uns zwar merkwürdig, sowohl die Ärztin als auch den Lehrer mit Meister oder Meisterin anzusprechen. Das klingt nach Unterordnung und Hierarchie. Und die sind schlecht, das wissen wir spätestens seit der Französischen Revolution. Dabei vergessen wir, dass wir seit der Studienreform unzählige Master produziert haben. Und tatsächlich ist diese Übersetzung für sensei nicht ganz treffend. Darin drückt sich noch vielmehr etwas aus, wovor man ganz selbstverständlich Respekt haben kann. Sen heißt „vorher“ oder „früher“ und sei heißt „Leben“.

Es handelt sich also um eine Person, die schlicht länger lebt und daher auch mehr Erfahrung und Weisheit hat, als die Person, die ihr gegenüber die Anrede sensei benutzt, also die Schülerin zum Beispiel. Ein Student sagte kürzlich zu mir „Sie sind ja älter… äh, ich meine… also, Sie wissen mehr als ich…“ Er hat natürlich recht. Ich bin um einiges älter als er und habe daher mehr erlebt. Dass ihm diese eigentliche Wertschätzung meines höheren Alters im nächsten Moment unangenehm war, liegt natürlich daran, dass Alter in unserer Kultur nichts Positives (mehr) ist. Schon gar nicht für eine Frau. Schade eigentlich. Wobei genau das auch so ein Punkt in Japan ist.

Um sich die Anrede sensei zu verdienen, genügt es nicht, länger gelebt zu haben. Man muss mit dieser Lebenszeit auch etwas Sinnvolles angestellt haben. Und leider sind diejenigen mit den guten Abschlüssen und hochrangigen Positionen auch in Japan noch immer eher Männer. Und die sinnvolle Regel, einer älteren Person Respekt und Anerkennung zu erweisen, für das was sie geleistet hat, also eine Wertschätzung von Alter und Lebenserfahrung, wird mitunter in Japan selbst durch Regeln außer Kraft gesetzt, die überhaupt nicht universell sinnvoll erscheinen: Männer vor Frauen.

Diese Regel führt zum Beispiel dazu, dass bei Zeremonien nicht nur das Alter, sondern auch das Geschlecht die Rangfolge festlegt. In einer japanischen Schule werden bei Verabschiedungen Reden gehalten, wobei die ältesten Kollegen zuerst sprechen. Tatsächlich die ältesten Kollegen, nicht Kolleginnen. Eine Lehrerin war selbst älter als einige Kollegen, die dennoch vor ihr sprechen sollten. Sie sprach dies auf einer Versammlung an. Es wurde darüber diskutiert, die männlich dominierte Reihenfolge wurde aber beibehalten. Der (etwas jüngere) Lehrer, der vor ihr redete, sprach den Sachverhalt in seiner Rede selbst an und sagte, dass hier noch viel getan werde müsse.

Das ist performativ betrachtet höchst interessant, dass er die geschlechterdiskriminierende Hierarchie beibehielt, diese aber in dem selbst geschlechterdiskriminierend hierarchischen Akt kritisierte. Ob dies nun zu einer Veränderung führen kann oder den status quo doch eher aufrechterhält? Interessant ist, dass hier tatsächlich Regeln befolgt werden, die einer vernünftigen Prüfung nicht standhalten. Männern grundsätzlich den Vorrang zu geben ist nicht vernünftig. Wenn wir Angela Merkel und Theresa May mit Donald Trump oder Boris Johnson vergleichen, ich meine – bitte! Ich denke zwar nicht wie Prof. Marston, dass Frauen die besseren Menschen oder klüger sind, aber Männer sind es definitiv auch nicht! Und selbst die Regel, die hinter der Anrede sensei steckt, greift nicht immer. Nicht alle, die älter sind, sind auch weiser…

Im Festhalten an solchen Regeln und mit der Begründung, dass es eben eine Regel ist, sind Japaner*innen vielleicht dann doch nicht die besseren Kantianer*innen. Wobei das schwierig zu bewerten ist. Kant selbst war der Ansicht, dass das schöne Geschlecht durchaus denken könne, es solle aber aus Vernunft auf ein bürgerliches Leben, also politische Beteiligung, Erwerbstätigkeit usw. verzichten, weil es für die heimischen Aufgaben viel besser geeignet sei, als die Männer. Auch ein Grund. Damit bereitete er der europäischen bürgerlichen Geschlechterhierarchie des 19. Jahrhunderts den Weg, die bis heute nachwirkt und der japanischen gar nicht so unähnlich ist. Die Männer stehen und reden an erster Stelle.

Und auch die Aufklärungsschrift klingt gar nicht so inkompatibel mit der japanischen It’s a rule-Mentalität. Steht dort doch, dass der öffentliche Gebrauch der Vernunft immer frei sein muss, der private aber eingeschränkt. Das ist etwas missverständlich, denn der öffentliche meint den des Gelehrten, der private den des Bürgers. Also: Als Philosophin kann und muss ich frei denken und kritisieren, als Angestellte im öffentlichen Dienst muss ich – gehorchen. Tja, da ist was dran. In meinem Fall nicht ganz so einleuchtend wie in Kants Beispiel:

So würde es sehr verderblich sein, wenn ein Offizier, dem von seinen Oberen etwas anbefohlen wird, im Dienste über die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit dieses Befehls laut vernünfteln wollte; er muß gehorchen. Es kann ihm aber billigermaßen nicht verwehrt werden, als Gelehrter über die Fehler im Kriegesdienste Anmerkungen zu machen und diese seinem Publicum zur Beurtheilung vorzulegen.

Was ist Aufklärung?

Seit dem zweiten Weltkrieg sehen wir auch das anders, die Pflicht zur Gehorsamsverweigerung aus moralischen Gründen soll eine zweite Nazi-Zeit verhindern. Aber jeden „Befehl“ in Frage zu stellen würde tatsächlich dazu führen, dass wir unsere „bürgerlichen“ Aufgaben nicht mehr erfüllen können. Wenn der Krankpfleger jede Anweisung der Oberärztin in Frage stellt, kommt das den Behandelten kaum zugute.

Es geht um das richtige Maß an kritischem Infragestellen und dem unhinterfragten Befolgen von Anweisungen (aufgrund von Vertrauen in Wissen und Vernunft der anweisenden Person). Wenn Kant hier auch nicht so weit geht wie der „Transzendentalist“ Henry David Thoreau, der 1849 die Pflicht zum zivilen Ungehorsam propagierte, also gerade die Gehorsamsverweigerung in der bürgerlichen Funktion – ein blindes Befolgen von Regeln heißt auch Kant nicht gut:

Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit.

Was ist Aufklärung?

Vielleicht ist das vorsichtige Vorgehen des japanischen Lehrers, der sein eigenes Verhalten in dem Moment, in dem er es vollzieht, kritisiert, ja doch nicht so unkantisch?

Daher kann ein Publicum nur langsam zur Aufklärung gelangen. Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zu Stande kommen […].

Was ist Aufklärung?

Also Reform statt Revolution? Und der Gehorsam? Im erwähnten Beitrag über Erkältungen und Mundschutze hatte ich das Hindernis eines Hindernisses der Freiheit angesprochen und auf das Tragen des Mundschutzes übertragen. In der Aufklärungsschrift ist unmissverständlich, was Kant mit diesem „Paradox“ meint:

räsonnirt, so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht!

Was ist Aufklärung?

Ich soll meine bürgerliche Freiheit einschränken und gehorchen, um die intellektuelle Freiheit zu sichern und zu fördern, die der eigentliche Quell der Aufklärung ist, so Kant. Ich muss mich als Angestellte im öffentlichen Dienst zum Beispiel an bestimmte Dienstwege halten, kann dann aber als Philosophin darüber schreiben, wie unsinnig diese sind.

Naja, ein bisschen schief klingt das schon. Entspricht allerdings dem Verhalten des japanischen Lehrers. Er folgt der Regel in seiner bürgerlichen Funktion als Lehrer, sagt aber seine kritische Meinung dazu. Genaugenommen macht er damit ganz im Sinne Kants freien Gebrauch seiner Vernunft als Intellektueller, er räsoniert, bei gleichzeitiger Einschränkung seines Gebrauchs der Vernunft in seiner bürgerlichen Funktion als Angestellter im Schuldienst, er gehorcht.

Nur – wem gehorcht er eigentlich? Der Tradition? Oder den Regeln des Kollegiums? Könnte das Kollegium, dem er selbst ja auch angehört, die Regeln nicht einfach ändern? Wäre hier eine kleine Revolution nicht doch besser?

Wie die von Yumi Ishikawa initiierte #KuToo-Bewegung, die kritisiert, dass viele japanische Frauen am Arbeitsplatz Schuhe mit einem Absatz zwischen 5 und 7 Zentimetern tragen müssen. Was übrigens ein globales Phänomen ist, das von Norwegens Fluglinien über Kanada bis zu den Filmfestspielen von Cannes reicht (Julia Roberts kam, nachdem flachbeschuhten Frauen der Zutritt zum  Roten Teppich verweigert wurde, im nächsten Jahr demonstrativ barfuß).

Das Schöne an der Position einer Schauspielerin wie Ishikawa oder Roberts im Unterschied zu dem einer Stewardess oder Lehrerin ist, dass sie genaugenommen gar keine bürgerliche Rolle haben, folglich auch niemandem gehorchen müssen, damit irgendetwas funktioniert. Für die Lehrerin oder Stewardess bestehen heute zwei Möglichkeiten. Die eine, die Kant empfiehlt: in der bürgerlichen Rolle („privater“ Gebrauch der Vernunft) gehorchen (und hohe Schuhe tragen und als zweite sprechen), aber in der Rolle der Intellektuellen / Person des öffentlichen Lebens (öffentlicher Gebrauch) Kritik üben. Und das geht, Twitter sei Dank!

Die zweite Möglichkeit konnte Kant noch nicht vorhersehen. Sie könnten in Streik treten, also gerade den von ihm geforderten bürgerlichen Gehorsam verweigern. Ob Kant das gut gefunden hätte? Wer weiß. Und während solche Japaner, wie der Lehrer, der den freien Gebrauch seiner Vernunft im Sinne Kants eingeschränkt, aber dennoch Kritik geübt hat, eben sehr Kantisch sind, sind solche Japanerinnen wie Ishikawa vielleicht sogar Kantischer als Kant selbst, wenn er doch auch schreibt, dass Satzungen und Formeln die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit sind. Und High Heels mochte er, wie alles übertrieben Aufgeputzte, wohl auch nicht.

Vielleicht ist die Frage gar nicht, wer hier die bessere Kantianerin ist (auch Kant war ja alles andere als unfehlbar), sondern was wir vernünftigerweise verantworten können.

Also weg mit den Fußschellen, im wahrsten Sinne des Wortes!