Entschuldige mal!

Erst der Radiosender Bayern 3, dann Angela Merkel und nun Jürgen Habermas – Entschuldigungen oder Schuldeingeständnisse scheinen momentan in Mode zu kommen. Im März 2021 widmete DIE ZEIT diesem Phänomen eine ganze Seite unter der Überschrift „Sogar der Postbote entschuldigt sich, weil er das Paket auf den Briefkasten legt, statt es nach oben zu bringen“.

Nun ja, ich habe da ganz andere Erfahrungen mit Postbot*innen gemacht, bessere und schlechtere. Aber das ist eine andere Geschichte. Interessant ist, dass gar nicht jede Entschuldigung auch ein Schuldeingeständnis ist. Über Merkel und Habermas lässt sich noch streiten. Bei der „Entschuldigung“ von Bayern 3 für die rassistische Bemerkung ihres Moderators sieht es anders aus. Weil sie seine Lieblingsband Coldplay gecovert hatten, bezeichnete er eine südkoreanische Boygroup als einen „Scheißvirus“. Wie SARS. Er sei aber nicht fremdenfeindlich, „denn ‚er habe ein Auto aus Südkorea‘“.

Dieser Satz ist offensichtlich keine Entschuldigung. Die folgte vom Sender erst auf den wütenden Hashtag #Bayern3Apologize. Zunächst „entschuldigte“ der Sender sich dafür, dass die Äußerung als rassistisch empfunden wurde. Und nach weiterer Kritik kam schließlich die Ergänzung, dass, wenn Äußerungen so empfunden werden, sie auch rassistisch sind. Über mehr als drei Ecken wurde hier die Schuld eingestanden. Aber ist das überhaupt noch eine Entschuldigung?

Ja! Der Sprachphilosoph John L. Austin beschäftigt sich in seinem viel zu wenig gelesenen Plea for Excuses mit genau dieser sprachlichen Praxis des Be- und Entschuldigens. Er war der Ansicht, dass diese ein neues Licht auf Moral werfen könne. Da stimme ich ihm zu. Allerdings verdecken uns unsere kulturellen Scheuklappen dabei manchmal ein wenig die Sicht. Auch oder gerade auf uns selbst. Schauen wir uns das Ganze also mal genauer an!

Tatsächlich ist Austins Analyse alltäglicher Situationen, in denen wir „Entschuldige“ oder „Excuse me“ sagen, noch genauso treffend wie 1950, als er seinen Plea for Excuses vortrug. Ob ich zu spät zu einer Verabredung komme oder auf ein Insekt trete (oder eine rassistische Äußerung getätigt habe) – ihm zufolge gibt es auf die darauf folgende empörte Reaktion bzw. Beschuldigung zwei typische Antworten: eine Entschuldigung (excuse) oder eine Rechtfertigung (justification).

Wenn ich mich entschuldige, gestehe ich ein, dass meine Handlung falsch war, lehne aber die (volle) Verantwortung dafür ab. Zum Beispiel weil es ein Versehen war: „Entschuldige bitte, aber…

… der Bus kam zu spät!“

… ich habe den Käfer gar nicht gesehen!“

… es war gar nicht meine Absicht, jemanden rassistisch zu beleidigen!“

Wenn ich mich rechtfertige, übernehme ich die Verantwortung für die Handlung, bestreite aber, dass sie falsch war: „Entschuldige, aber…

… es sind doch nur 5 Minuten und du bist doch selbst immer zu spät!“

… es ist doch nur ein blöder Käfer!“

… das wird man doch noch sagen dürfen!“

Das ABER scheint in beiden Fällen essentiell. Denken wir einmal kurz an die letzte derartige Situation in unserem Leben. Sehr wahrscheinlich sah die Reaktion genau so aus. Aber wer von uns kann sich daran erinnern, das letzte Mal stattdessen die Worte vernommen zu haben: „Es tut mir leid! Dafür gibt es keine Entschuldigung.“

Bei mir war das 2018. Obwohl… genaugenommen waren es nicht diese Worte, sondern „ssumimassen“. Denn ich befand mich in Japan. Auf den ersten Blick beziehungsweise den ersten Hörer scheint es so, als würden die Menschen sich dort viel häufiger entschuldigen. Austin sagt, dass wir durch ein geschärftes Bewusstsein der Wörter auch unsere Wahrnehmung der Phänomene schärfen. Das ist ein guter Ansatz, finde ich. Aber etwas fehlt bei ihm. Nämlich der Blick über den eigenen Tellerrand.

Eine interkulturelle Erweiterung von Austins Ansatz ist hier vielversprechend. Der Austausch mit anderen Kulturen kann nicht nur den eigenen persönlichen Horizont erweitern, sondern auch die eigene Theoriebildung. Denn auch wenn Wissenschaft objektiv zu sein scheint und ihre Erkenntnisse universal anmuten – nicht zuletzt die feministische Philosophie oder die Post Colonial Studies haben uns da eigentlich eines Besseren belehrt.

Wenn „der Mensch“ unreflektiert vom männlichen Standpunkt aus beschrieben wird, fallen weibliche Leib- und Welterfahrungen, wie sie zum Beispiel von der Phänomenologin Ute Gahlings thematisiert werden, aus dem Beschreibungsmuster „Mensch“ heraus. Und das Überhören anderer Standpunkte und Stimmen führt nicht nur zu Ungerechtigkeit. Es nimmt uns auch die Möglichkeit, von diesen Standpunkten zu profitieren. Die Philosophin Miranda Fricker hat dies unter dem Stichwort „epistemische Ungerechtigkeit“ beschrieben.

Hören wir also einmal genauer hin!

Austin schreibt, „the study of excuses may throw light on ethics”. Das müssen wir wörtlich nehmen und in Frage stellen. Wörtlich nehmen müssen wir „excuses“, die nicht identisch sind mit 申し訳 [mōschiwake]. Denn wenn ich zu einer Britin „excuse me“ sage, ist das nicht dasselbe, wie wenn ich „mōschiwake arimassen“zu einer Japanerin sage. Und in Frage stellen müssen wir den Satz genau deshalb – weil er eben jene Universalität suggeriert, die nicht gerechtfertigt ist. Die Untersuchung von „excuses“ kann Licht darauf werfen, wie Moral sich in sozialen Praktiken in der englischen Kultur manifestiert. Gerade durch die Unterschiede zur japanischen Kultur können wir dann aber wieder, wie Austin sagt, die Wahrnehmung der Phänomene schärfen. Denn gerade das Unübersetzbare verweist auf den einzigartigen Blickwinkel aus der jeweiligen Sprache und Kultur.

Wenn wir im japanischen (Reise-) Wörterbuch nachschlagen, finden wir viele Übersetzungen für: „Entschuldigung!“ Darunter die im Alltag vielleicht am häufigsten gebrauchte: 済みません [ssumimassen]. Ssumimassen wird zum Beispiel benutzt, wenn ich eine Person in irgendeiner Form gestört oder versehentlich belästigt habe oder wenn ich sie bitte mich vorbeizulassen. Die Formel 申し訳ありません [mōschiwake arimassen] dagegen ist ein typischer Bestandteil in offiziellen E-Mails. Zum Beispiel als Entschuldigung dafür, die Zeit der angeschriebenen Person zu beanspruchen. Es gibt noch vieleweitere Formeln, die häufiger als im Deutschen genutzt werden. Und auch in Situationen, in denen wir uns im Deutschen gar nicht entschuldigen. Die Unterschiede werden noch deutlicher, wenn wir die sprechakttheoretische Ebene betrachten.

Was tue ich eigentlich, wenn ich „Entschuldige!“ sage? Oder ssumimassen?

„Entschuldige (mich)!“ und „Excuse me!“ können verschiedene Funktionen haben, von der aufrichtigen Schuldanerkennung im Sinne eines „Tut mir leid…“ bis hin zur empörten Schuldzuweisung: „Also, entschuldige mal!“ Grammatisch betrachtet handelt es sich allerdings immer um Imperative. Und damit um die Aufforderung, mich zu ent-schuldigen. In diesem semantischen Sinne werden sie im Deutschen wohl am häufigsten genutzt. Eigentlich ein bisschen dreist. Oder? Bringen wir mit der Entschuldigung tatsächlich ein Plädoyer, einen „plea“, für uns selbst vor? Zumindest beschreibt Austin genau so die beiden typischen Antworten auf eine Beschuldigung: die volle Verantwortung für eine falsche Handlung wird abgelehnt, und zwar

a) mit Betonung auf „falsche Handlung“ (Rechtfertigung): „Es war ja nur ein blöder Käfer!“. Oder

b) mit Betonung auf „volle Verantwortung“ (Entschuldigung): „Ich habe den Käfer gar nicht gesehen!“

Die Entschuldigung ist somit, wie ich sagen würde, eine Art Kompromiss: ich erkenne den Schuldvorwurf an und mildere ihn zugleich ab.

Das wird noch deutlicher im Vergleich mit dem japanischen Sprechakt. Ssumi bedeutet „OK“ oder „erledigt“ und massen ist die Verneinung. Entsprechend sage ich im Japanischen, dass es nicht OK war, die andere Person versehentlich zu berühren, während ich im Deutschen oder Englischen mich im Sinne Austins damit ent-schuldige und herausrede, dass es ja nur aus Versehen war. Sogar dann, wenn ich der Person mit voller Wucht auf den Fuß getreten bin.

Erstaunlicherweise funktioniert das in den meisten Fällen.

Die japanischen „Entschuldigungsformeln“ sind dagegen bei genauer Betrachtung gerade keine Ent-schuldigungsformeln. Sie drücken vielmehr aus, dass ich mir selbst die Verantwortung für mein Handeln zuschreibe. Zumindest formal. Noch deutlicher wird dies bei mōschiwake arimassen. Mōschiwake bedeutet „Entschuldigung“, „Rechtfertigung“ oder „Ausrede“. Und arimassen ist wieder eine Verneinung. Mōschiwake arimassen bedeutet somit „Es gibt keine Entschuldigung“.

Im Japanischen verneint die Sprecherin somit ihre eigene Unschuld, die dagegen in der englischen und deutschen Ent-Schuldigung postuliert oder eingefordert wird. Der erste Eindruck, dass Menschen in Japan sich häufiger entschuldigen, ist unter einem strengen linguistisch-phänomenologischen Blick somit richtig und falsch. Sie sagen viel häufiger ssumimassen, aber ent-schuldigen tun sie sich damit gerade nicht. Zumindest formal.

Mit dieser Beobachtung haben wir nicht nur eine Eigenheit der japanischen Kultur besser kennengelernt, sondern auch die unserer eigenen Kultur: wir reden uns immer ein Stück weit heraus. Zum Beispiel: Es war ja nicht so gemeint, das mit dem „Scheißvirus“! Ich habe ja nicht alle Koreaner damit beleidigt, sondern nur die, die meine Lieblingsband gecovert haben! Und meine Aussage steht in keinerlei Zusammenhang mit dem Umstand, dass weltweit gerade Menschen mit asiatischen Namen und asiatischem Aussehen beleidigt, angegriffen und sogar getötet werden!

Da sind die Entschuldigungen bzw. Verantwortungsübernahmen von Merkel und Habermas schon eine andere Hausnummer. Habermas spricht von einer „falschen Entscheidung“, die er korrigiert habe – die Annahme eines umstrittenen Buchpreises. Merkel sagt ganz ähnlich, der Oster-Shutdown sei mit „bester Absicht“ geplant, aber dennoch ein Fehler. Dieser Fehler sei „einzig und allein“ ihr Fehler – „qua Amt“ sei sie dafür verantwortlich. Sie bedaure zutiefst und bittet um Verzeihung. Fast eine japanische Verantwortungsübernahme. Fast. Denn während letztere oft ohne vorherige Kritik durch andere kundgetan wird, folgten Habermas’ und Merkels Fehlereingeständnisse auf „massive Kritik. Dennoch stechen sie irgendwie heraus unter all den deutschen Ausreden…

Ein Ausflug in die japanische Kultur bereichert uns nicht nur mit fantastischem Essen, faszinierenden Kunstformen und entschleunigenden Praktiken, sondern zeigt uns einen Aspekt unserer eigenen Sprachpraxis, den wir sonst allzu leicht übersehen.

Mir zumindest ist es erst so richtig bewusst geworden, was ich tue, wenn ich mich ent-schuldige, nachdem ich aus Japan zurückgekehrt bin. Und das war zunächst gar nicht so angenehm. Ich hatte einen blinden Fleck verloren und die Fähigkeit, über bestimmte kulturelle Eigenheiten hinwegzusehen. Zum Beispiel war mir vorher nicht bewusst gewesen, wie laut die Menschen (mich eingeschlossen) in der Berliner U-Bahn sind. Und wie sehr wir alle (mich eingeschlossen) uns permanent aus allem herausreden. Die anderen sind ja auch nicht leiser, da muss ich doch schreien!

Seither versuche ich öfter einfach mal zu sagen: Tut mir leid!