Grenzen

Pünktlich zum 25. Jubiläum des Mauerfalls fiel mir nun eine Postkarte wieder in die virtuellen Hände, die das Brandenburger Tor zeigt. Ein Freund hatte sie, zusammen mit anderen Kuriositäten, diesen Sommer in einem Trödelladen gekauft, während eines Sommerfestes auf dem Lande (der besagten Feierlichkeit mit der Feuergöttin). Die Postkarte lag mit einigen anderen auf dem Tisch in der Mitte des Hofes. Es dauerte nicht lange, bis die Karte Aufmerksamkeit auf sich zog und Fragen nach sich:

Von welcher Seite wurde das aufgenommen? Ach ja, von dort. Aber ist das nicht die falsche Seite? Müssten die Grenzsoldaten nicht auf der anderen stehen? Und war zu der Zeit, als es Grenzsoldaten gab, eine derartige Technik überhaupt möglich?

Denn diese Farbgebung schien auch mir selbst höchst artifiziell. Aber schön. „Die ist aber hübsch“, kommentierte einer, „…viel zu kitschig!“ ein anderer. Ich begann mich zu fragen, wie hübsch und kitschig ein Foto mit Grenzsoldaten sein kann, wenn diese nicht gerade über den Stacheldrahtzaun springen. Es ist das Bild einer Grenze, einer ungewollten Grenze, an der Menschen gestorben sind. Ein Symbol der Unfreiheit. Deren Fall wurde gerade gefeiert.

Fast hätte ich den 9. November ‚verschlafen‘, so wie ich manchmal Weihnachten ‚verschlafe‘, gerade weil bereits im August die Schokoladenweihnachtsmänner im Laden stehen. Dem Mauerfall ergeht es nicht besser. Kürzlich lag eine „Sonderausgabe“ der Bild-Zeitung in jedem Briefkasten. Oben prangt das Bild-Logo. Darunter steht „Unabhängig. Überparteilich“. Natürlich in Großbuchstaben. Überparteilich? Was auch immer das heißt. Unabhängig? Auf der ersten rechten Seite nach dem Titelblatt ein fast ganzseitiges Bild von Menschen, die auf der aufgebrochenen Mauer stehen, darunter in großen schwarzen Buchstaben der Satz: Wir sind das Volk. Ganz klein oben rechts in der Ecke: „Anzeige“. Auf der nächsten rechten Seite ein ebenso großes Bild von zwei schicken Autos. Darunter in ebenso großen schwarzen Buchstaben: Wir sind das Auto. Ich stelle fest, dass nur die linken Seiten den (nicht weniger reißerischen, bunten und großbuchstabierten) Beiträgen vorbehalten sind – zumindest zum Teil. Die rechten Seiten gehören ganz je einem Sponsor. Zumindest weiß ich jetzt, warum ich die Sonderausgabe nicht nur ungefragt, sondern auch kostenlos erhalten habe. Kostenlos für mich, aber nicht für den Wald

Äußerst angemessen und gelungen dagegen sind die Aktionen in Berlin, allen voran die Mauer aus Ballons, die in die Freiheit entlassen wurden. Auch wenn ich mir habe sagen lassen, dass es im Fernsehen eindrucksvoller war, als vor Ort. Die Öffentlich-Rechtlichen haben ein beeindruckendes Programm zusammengestellt. Augenzeugenberichte damals und heute. Das Wort „würdevoll“ steht neben „Wahnsinn“. Beide passen. Eine Ostberlinerin küsst einen Volkspolizisten. Sie hatte ihn falsch verstanden, überhaupt beruhen die Ereignisse des 9. November 1989 großenteils auf Missverständnissen. Die zuständigen Stellen wollten die Mauer gar nicht aufmachen und die DDR abschaffen, der Grenzpolizist wollte die junge Frau gar nicht raus- und wieder reinlassen. Aber das ist jetzt egal. Selbst ihr, nach 25 Jahren. Viele Küsse, viele Tränen der Freude. Fassungslosigkeit. Doch auch Rosen, die zum Gedenken an die Opfer morgens in die Gedenkstätte gesteckt wurden. Ein Bürgerrechtler von damals mahnt, dass die Tränen der Freude am 9. November nicht das Blut wegwaschen können. Das Blut derjenigen, die auf der Flucht in die Freiheit erschossen wurden.

Ein Staat, der mit seinen Bürgerinnen und Bürgern umging wie mit Schwerverbrechern, die aus dem Hochsicherheitstrakt fliehen. Er ließ sie an der Grenze erschießen, als habe er Angst, was sie da draußen tun könnten. Der Gedanke an die Grenze rührt mich immer wieder zu Tränen. Oft habe ich gehört: „Ich wusste gar nicht, dass dich das interessiert.“ Ich weiß selbst nicht, warum es mir so nahe geht. Ich habe in diesem Fall das Glück der späten Geburt.

Mein Blick fällt wieder auf die Postkarte. Auf der Rückseite steht lediglich „Brandenburger Tor“. Kein Datum. Kein Hinweis. Ich weiß nicht einmal, ob das Foto vor oder nach dem Mauerfall zu datieren ist. Nach reiflicher Überlegung komme ich aber zu dem Schluss, dass höchstwahrscheinlich nicht nur die Farben nicht authentisch sind, sondern auch die Komposition. Die Soldaten und die Schattenwürfe wirken wie hineinplatziert. Ich glaube, dass es nicht nur das perfid aufgehübschte Foto einer echten Grenze ist, sondern die Inszenierung einer Grenze. Das Perfide daran ist, dass hier nicht das Ende der Grenze verkauft wird, im Unterschied zu anderen Mauerdevotionalien wie den kleinen Mauerstückchen (aus denen mittlerweile eher die Chinesische als die Berliner Mauer entstünde, würden sie wieder zusammengeklebt) oder wie den kleinen Trabis, die durch die Mauer brechen, oder besagtes Foto des Sprungs in die Freiheit. All dies sind Symbole für die Freiheit, das Ende einer Unterdrückung. Die Postkarte zeigt das Gegenteil.

Woher kommt das Faible für Grenzen?

Mauern bieten Schutz.

Als ich das Interview mit dem Mann sehe, der die Grenze aufgemacht hat (an der Bösebrücke, Bornholmer Straße), bin ich zunächst etwas gelangweilt, dann irritiert. Er berichtet von den Ereignissen und ich fühle mich in eine andere Zeit versetzt. Bürokratendeutsch. Deutschdemokratisches Bürokratendeutsch. Das höre ich nicht zum ersten Mal. Was mich aber irritiert ist, dass die Menschen im Hintergrund klatschen. Und ich verstehe nicht warum.

Der Mann wird gefragt, welche Emotionen ihn bewegt haben, als er den Befehl gab: „Schlagbaum hoch!“ – Nichts. Er habe darauf gewartet, dass seine Kollegen den Wunsch äußern, die Grenze zu öffnen, da sie dies nicht taten, habe er für sie handeln müssen. Das heißt: er hatte sich gewünscht, dass die anderen sich wünschten, was er sich (heimlich) wünschte. Diese Wunsch- oder Gefühlsäußerung über drei Ecken oder mehr (ein Bekannter würde sage: von hinten durch die Brust ins Auge) kommt mir selbst ein wenig bekannt vor. Mein Freund, der weniger das Glück der späten Geburt hatte, bestätigt meinen Verdacht: Es war so, wie ich es selbst in Russland erlebt habe. Man war gewohnt, nicht direkt zu reden. Es gab immer eine vorder- und eine hintergründige Kommunikation. Bei meinen russischen Freunden merke ich manchmal, dass es irgendwie um Politik gehen muss, weil ich einzelne russische Schimpfworte erkenne. Die hintergründige Ebene selbst aber bleibt mir verborgen. So wie die Gefühle des Mannes im Fernsehen. Unser nochregierender Bürgermeister sprach in seiner Rede von Mauern aus Beton und Mauern in den Köpfen. Die Mauer im Kopf des Mannes, der die Grenze an der Bornholmer Straße geöffnet hatte, scheint nicht gefallen zu sein.

Nahe geht mir der Mauerfall wahrscheinlich, weil es um Freiheit geht. Damit kann ich etwas anfangen. Es gibt verschiedene Arten von Freiheit. Den DDR-Bürgerinnen und -Bürgern ging es um Reisefreiheit, eine Freiheit, die von außen beschnitten wurde, die gesetzlich oder bürokratisch festgelegt und von Grenzbeamten gewährt werden kann – wie von diesem einen an der Bornholmer Straße. Ein anderes Stichwort ist Gedankenfreiheit, eine innere und äußerst philosophische Freiheit. Jean-Paul Sartre sagte, wir seien frei zu wählen, aber wir seien nicht frei, diese Freiheit selbst zu wählen. Anders gesagt, wir sind innerlich frei, ob wir wollen oder nicht. Diese Freiheit nach außen zu tragen, ist dagegen etwas ganz anderes. In dem Volkslied, das auch immer wieder in politischen Zusammenhängen verwendet wurde, heißt es – sehr passend zum Mauerfall – in der vierten Strophe:

„Und sperrt man mich ein
im finsteren Kerker,
das alles sind rein
vergebliche Werke:
denn meine Gedanken
zerreißen die Schranken
und Mauern entzwei:
die Gedanken sind frei.

Aber es heißt zuvor auch:

„Die Gedanken sind frei
wer kann sie erraten?
Sie fliehen vorbei
wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger erschießen
es bleibet dabei:
die Gedanken sind frei.

Ich denke, was ich will
und was mich beglücket,
doch alles in der Still’
und wie es sich schicket.
Mein Wunsch und Begehren
kann niemand verwehren,
es bleibet dabei:
die Gedanken sind frei.“

Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen – auch dies scheint zu dem Grenzbeamten zu passen, denn von seinen Wünschen weiß ich nichts. Die Gedanken sind frei, die Brücke zwischen der Gedankenfreiheit, die wir uns gar nicht aussuchen können, und der äußeren Freiheit ist die Meinungsfreiheit. Nicht selten haben politische Systeme äußere Freiheiten in Maßen gewährt, um jene mächtige in Schach zu halten. Selbst die innere Freiheit, die Freiheit zu wählen und die Gedankenfreiheit sind relativ, sofern sie beeinflusst werden können – um nichts anderes geht es in jeder Ideologie. Wir sind alle ideologisch geprägt, wachsen mit einer bestimmten Vorstellung von Gut und Böse auf. Der Punkt Sartres ist, dass es allein bei uns liegt, was wir daraus machen. Zum Beispiel, indem wir unsere Meinung frei äußern, unsere Gedanken teilen – oder nicht. Kant schrieb, dass das Selberdenken äußerst beschwerlich sei, der Schritt in die Mündigkeit zudem für gefährlich gehalten werde. Unter Umständen ist es das auch. Die Gedanken kann niemand erschießen, einen Menschen, der den Mund aufmacht, dagegen schon.

Ich glaube, die Meinungsfreiheit ist diejenige, die sich am ehesten und am stärksten gegen ihre Unterdrückung wehrt. Deshalb ist sie so gefürchtet, so mächtig. Es ist nicht die Freiheit eines einzelnen politischen Anführers, eines Grenzbeamten, eines Märtyrers – es ist die Freiheit einer und eines jeden von uns. Und Freiheit bedeutet Verantwortung.