Vielfalt

Was ist Vielfalt? Ganz einfach: Das Gegenteil von Einfalt. Oder von Eintönigkeit. Also: bunt. Viele statt eines. Von was auch immer.

Wie ist Vielfalt? Gut. Schön. Schützenswert. Das scheint in einer (verhältnismäßig) liberalen Gesellschaft wie unserer (fast) selbstverständlich. Aber warum eigentlich?

Als ich einmal gefragt wurde, warum ich mich für Vielfalt im akademischen Bereich (über die Frauenförderung hinaus) einsetze, musste ich tatsächlich nachdenken. Aus persönlicher Überzeugung. Aus einem Gerechtigkeitsgefühl heraus. Oder aus Sympathie? Auch die biologische Vielfalt wird als unhinterfragt positiv dargestellt. Niemand fragt: „Sollen wir die Artenvielfalt erhalten?“ Auf diese nicht gestellte Frage antworten auch die charmanten Plakate im Leipziger Zoo nur indirekt: Biodiversität – das sind wir! Deshalb.

Die Kampagne im Rahmen der UN Dekade der biologischen Vielfalt verkündet: „Die unvorstellbare Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten, der Ökosysteme und Gene – sie machen unsere Erde so wertvoll und einzigartig.“ Das ist allerdings keine Begründung oder Antwort auf das Warum, sondern eine Behauptung. Kampagnen im Allgemeinen arbeiten nicht mit logischen Argumentationen, sondern mit Witz, Ästhetik und Emotionen. Das Plakat zielt genau darauf: ein Identitätsgefühl. Ganz ähnlich ein Werbespot für den Schutz von Bonobos: Sie seien intelligent und friedlich – wie wir. Und wenn sie nicht friedlich wären oder so intelligent wie ein Regenwurm? Ich mag Regenwürmer. Im Übrigen sehen wir neben den Bonobos gar nicht so gut aus. Was vielleicht daran liegt, dass sie einen sehr effektiven, um nicht zu sagen: intelligenten Weg gefunden haben, Aggressionen abzubauen… Unabhängig davon würde ich sofort zustimmen, dass alle Tiere schützenswert sind. Aber warum eigentlich? Die Frage lässt mich nicht mehr los. Oder ist die Frage nach dem Warum hier fehl am Platz? In einem Workshop zu Aufklärung und Säkularisierung stand die Frage im Raum, was uns heilig ist. Die Antworten der Teilnehmenden reichten von „Fortschritt“ über „Gott“ bis zu „meine Freiheit“. Mir fiel nichts ein. Da war ein Gefühl, dass es etwas gibt, aber ich kam einfach nicht darauf. Erst einige Tage später rief ich plötzlich beim Frühstück: Das Leben! Meine Katze kniff zustimmend die Auen zusammen. Eine quasireligiöse Haltung scheint mir für mich persönlich zwar in Ordnung, aber nicht als allgemeine Handlungsanweisung. Die Gefühle, auf die sich mein persönliches Plädoyer für Vielfalt gründet, treffen auf das Gefühl, dass da doch mehr sein muss als dieser subjektive, willkürliche Grund.

Oder ist Vielfalt eines jener Zauberworte des postmodernen Wissenschaftsdiskurses geworden, die sich niemand traut zu hinterfragen? Als hätten sie magische Kräfte. Finanziell haben sie die mitunter. In der Wissenschaft tauchen sie deshalb immer wieder in jenen Disziplinen auf, die unter ‚Rechtfertigungsdruck‘ stehen: Performanz, Interdisziplinarität, aber auch Postmoderne selbst und – Diversität. Sogar ganze Texte können aus nicht viel mehr als schöner Hülle bestehen, wie der Postmodernism Generator äußerst amüsant veranschaulicht. Die eingangs gegebene Definition von Vielfalt als Gegenteil von Einfalt ist zwar logisch ebenso einwandfrei wie „1 ist nicht 0“, ebenso grammatisch sinnvoll wie die generierten Texte, aber bei näherer Betrachtung ebenso einfältig.

Zauberwörtern entgeht man am besten, indem man sich aus dem (postmodernen) Diskurs hinaus und zurück in die Wirklichkeit begibt, mit anschaulichen Beispielen. Neben der biologischen Vielfalt, zu der wir Menschen tatsächlich als ein Teil zählen, gibt es auch spezifisch menschliche Vielfalten. Sie werden auf dem Berliner Karneval der Kulturen oder dem Christopher-Street-Day gefeiert. Auch diese Vielfalten erhalten ein ‚like‘ von mir. Als ethisches Leitmotiv greift sogar Immanuel Kants Kategorischer Imperativ, die vielleicht allgemeingültigste Handlungsanweisung überhaupt: „handle nach einer Maxime (das ist ein subjektiver Beweggrund), welche zugleich als ein allgemeines Gesetz gelten kann!“ Ich töte niemanden, alle töten niemanden – auch ich werde nicht getötet. Klingt gut! Und einfach. So einfach ist das mit dem Kategorischen Imperativ aber doch nicht. Ich will nicht gefressen werden, also fresse ich niemanden. So weit, so gut. Allerdings ist es schwierig, nichts und niemanden zu fressen. Ja, liebe Vegan-Company mit dem Slogan „Wir lieben Leben“ – wie mein Freund jedes Mal zu sagen pflegt, wenn wir bei euch vorbei gehen: Pflanzen leben auch! Nein, einfach ist es nicht mit der Moral, den Überzeugungen und all dem… Ein Kompromiss könnte helfen. Über Geschmack lässt sich (nicht) streiten und solange mich niemand zwingt, Fleisch zu essen und ich niemanden zwinge, keines zu essen, erscheint mir das als gute Lösung. Leben und leben lassen.

Leider funktioniert auch das nicht immer. Die bunte, lecker-würzige, wohlduftende Vielfalt, die auf den Straßen Berlins gefeiert wird, wird dann zum Problem, wenn sich Kompromisse nicht ohne weiteres finden lassen, wenn die Ansprüche, die sich aus den Unterschieden ergeben, einander vielleicht sogar ausschließen. Ein Schüler einer achten Klasse, die ich im Berliner Stadtteil Wedding unterrichtete, antwortete auf die Frage, wer Klaus Wowereit sei, nicht „unser Bürgermeister“, sondern mit einem Schimpfwort. Immerhin antwortete er und an seiner (beleidigenden) Antwort wurde deutlich, dass er durchaus auch die gewünschte hätte geben können. Dieser Schüler war weder besonders aggressiv, noch besonders intolerant, er zählte sogar zu den sensibelsten und intelligentesten. Neben „behindert“ oder „schwul“ (was ich aus meiner eigenen Schulzeit kannte) wurde auch „Jude“ als Schimpfwort unter den arabischstämmigen Jugendlichen gebraucht. Der handfeste Konflikt im Nahen Osten war ihnen allerdings kein Begriff. Die Vielfalt der Erfahrungshorizonte, der kulturellen und religiösen Hintergründe in Kombination mit Nichtkommunikation machten den Ethikunterricht, die Anleitung zum Reflektieren über das eigene Tun und Werten, zu einer wahren Herausforderung. Einige Mädchen der siebten Jahrgangsstufe entgegneten mir im kleinen Kreis empört bis aufgelöst, sie seien „doch nicht pervers“, schließlich würden sie als gute Muslima „nicht vor der Ehe ficken“. Wörtlich. Der Grund war, dass ich eines der Mädchen im Ethikunterricht zurechtgewiesen hatte, nicht immer sexuell aufgeladene Schimpfwörter zu benutzen. Zumindest nicht in meinem Ethikunterricht. Sie hatte einem Jungen mit der äußerst beliebten Formulierung gedroht: „Ich fick dein Gehirn!“ Nein, das habe ich mir nicht ausgedacht. Die Mädchen hatten natürlich Angst, dass ich ihren Eltern davon erzähle. Das habe ich nicht. Auch wenn sie es nicht glauben wollten, ich mochte sie ja. Und Pubertät ist was Furchtbares. Das ist manchmal Bestrafung genug. Beschimpfungen sind für Heranwachsende austauschbar, sie verbinden damit oft nichts. Dies zählt zum Alltag in jeder Schule und im Umgang mit Teenagern. Auch die Verbindung von Gewalt und Sexualität: Man prügelt sich erst mal ein bis zwei Klassenstufen mit dem anderen Geschlecht, bevor man dann zum Küssen übergeht. Schwierig wird es, wenn sich diese typischen Pubertätsprobleme aufgrund der Vielfalt von Ansichten multiplizieren und die Kommunikation darüber erschweren. Aber darüber reden wir ja nicht. Und mit wir meine ich jetzt: wir in der Pädagogik und wir in der Politik.

Wir reden auch nicht über eine weitere Dimension von Gewalt, die mich an die Erzählungen des Autors Frank McCourt aus dessen Lehrerzeit erinnerte. Er beschreibt darin, wie ein italienischer Vater mit angsteinflößender Statur ins Klassenzimmer kommt, seinen Sohn packt und wiederholt gegen die Wand schlägt, nachdem McCourt sich bei der Familie über das Benehmen des Jungen beschwert hatte. Die Situation spielt sich im New York der 1950er Jahre ab, in einer Klasse mit größtenteils italienischem oder irischem Migrationshintergrund. Als McCourt mit seinen Kollegen über einen anderen eigenbrötlerischen Jungen irischer Abstammung mit einem ungewöhnlichen, künstlerischen Talent spricht, antworten diese: „Manche von den Kindern fallen durchs Raster, aber mein Gott, was kann man als Lehrer schon groß tun?“ Ich selbst hatte einen Schüler, der die Aspekte beider Jungen aus McCourts Erzählung in sich vereinte: poetisches Talent und gewalttätiges Potenzial – wahrscheinlich aufgrund gewalttätiger Erziehung. Die Bemerkung seines Klassenlehrers war in beiden Fällen dieselbe: Er ist eben Araber. Nachdem ich mit dem ebenso höflich wie kräftig gebauten Vater in Vertretung des Klassenlehrers ein Gespräch geführt hatte, erschien der Junge einige Tage nicht in der Schule. Danach war er anders. Dass einige der Kinder mit relativer Sicherheit gewalttätig sind, weil sie selbst zu Hause geschlagen werden, darauf war ich in meiner pädagogischen Ausbildung genauso wenig vorbereitet worden, wie McCourt.

Wie nochmal kam ich jetzt von Bonobos und Frauenförderung zu den Berliner „Problembärchen“, denen ich während meiner Unterrichtstätigkeit begegnet bin? Ganz einfach: Auch das ist Vielfalt. Und es ist nicht einfach.

Aber darüber reden wir nicht. Die speziellen Pflichtkurse zum Unterricht in ‚heterogenen Lerngruppen‘ hatten vielmehr Vielfalt und Heterogenität als etwas Positives postuliert, ohne das Nachdenken darüber zu ermöglichen oder auf Konflikte vorzubereiten. In Simulationen wurden Studierende zu körperlich oder geistig behinderten und lernschwachen Schülerinnen und Schülern. Leider entsprechen die Simulationen so viel weniger der Realität als McCourts Erzählungen. In einem Kurs zu Unterricht in Klassen mit Migrationshintergrund saß ein Student mit den Füßen auf dem Tisch, eine Tageszeitung vor sich aufgeschlagen. Der Geräuschpegel war so hoch, dass ich den Dozenten nicht verstand. Ich nehme an, dass ich nichts verpasst habe. Wie ich mit dem netten jungen Mann in der Deutschklasse umgehen sollte, der kein Deutsch sprach oder verstand, hätte mir der Dozent wahrscheinlich auch nicht sagen können. Der Schüler nickte immer nur freundlich. Dafür gab ich ihm 8 Punkte. Seine Klassenkameraden hätten ihm natürlich übersetzen können – wenn sie mir selbst zugehört hätten. Habe ich schon erwähnt, dass es eine der besseren Weddinger Schulen war?

Aber darüber reden wir nicht. Zumindest nicht miteinander.

Konflikte verdeutlichen, dass kein Wert selbstverständlich ist. Auch kein ‚abendländischer‘. Das sogenannte ‚Abendland‚ hat schließlich alles andere als eine weiße Weste, schaut man sich die vergangenen Jahrhunderte an. Nein, wir sind keine Bonobos… Vielleicht sollten wir aufhören, Vielfalt nicht zu hinterfragen. Sind es doch Konflikte zwischen vielfältigen Positionen, die ein kritisches Nachdenken über Vielfalt ermöglichen – und über uns selbst. Und ich glaube, nur darauf aufbauend kann Vielfalt wertgeschätzt werden.

Vielfalt ist eben vor allem eines nicht: einfach.