Ich sitze im Zug und sehe aus dem Fenster. Rauch steigt auf. Aus einem Riesenschornstein. Wo bin ich hier? Keine Ahnung. Jedenfalls (noch) irgendwo in Berlin.
Und ich denke: Es brennt. Jetzt auch in Berlin. Metaphorisch und wörtlich. Angeblich konnte man die Rauchsäule über der halben Stadt sehen, als die Turnhalle neben dem Asylheim angesteckt worden war. Ein Teil meines Verstandes weigert sich, das anzuerkennen. Nicht hier, nicht bei uns. So sehr ich mich mittlerweile mit der Großstadt identifiziere, so sehr habe ich wohl diese kleinstädtische Haltung behalten. Wahrscheinlich ist das aber gar nicht so kleinstädtisch. Es hat allerdings schon etwas mit Heimat zu tun. Heimat – dort wo man sich sicher fühlt. Nicht bei uns. Mittlerweile hatte sich herausgestellt, dass Kinder an der Turnhalle gekokelt hatten. Also doch keine Nazis. Doch nicht bei uns!
Falsch. Da war doch was im April…. Und auch wenn jetzt gerade keine Turnhalle brennt – in den Köpfen brennt es durchaus. Ja, ich habe Angst. Ich denke, dass es ganz gut ist, dass Gedanken nicht nur frei sind, sondern auch keinem wehtun, solange es Gedanken bleiben. Ich werde nämlich einen nicht los: Ich würde diesen Menschen auch gerne den Arm zum Gruß entgegenstrecken. Aber nicht mit flacher Hand, sondern mit geballter Faust.
Angst und Wut.
Der Mensch ist ein Flucht- und Herdentier. Leider ist er nicht halb so klug, wie sein Gattungsname „sapiens“ nahelegt Wenn uns jemand schubst, löst das Bedürfnis zurück zu schubsen oft zu schnell den ersten Schreck und Fluchtreflex ab. Obwohl Flucht meist klüger wäre. Problematischer als die Dummheit, die die (berechtigte) Angst überwiegt, ist aber wohl der Herdentrieb.
Im Fernsehen laufen Spezialsendungen über Neo-Nazitum. Die Herde tobt und folgt, wie sollte es anders sein, den Führern. Ich denke an Bad Religion: „Think! Think before you die!“ Wenigstens einmal…
Es gibt viele Bekundungen gegen die neue Rechtswelle. Aber ist es überhaupt eine Welle? Das klingt so mächtig. So ernst und bedrohlich. Wenn eine Welle auf einen zukommt, kann man nichts anderes machen, als sich irgendwo festzuklammern, sich zusammen zu kauern. Wegzuschauen. In der S-Bahn haben zwei Nazis eine Frau beschimpft und – mir wird übel, wenn ich dran denke – auf ihr Kind uriniert. Und da ist sie wieder, die Faust in meinen Gedanken. Zwei Nazis. Zwei anwesende junge Menschen erzählen im Fernsehen, wie die Situation war. Sie hatten 110 gewählt und die Typen wurden geschnappt. Meine Fäuste im Kopf einmal beiseitegelassen, wahrscheinlich hat sich das Paar ganz richtig verhalten. Aber die Situation war nicht zwei gegen zwei. Es waren noch andere anwesend. Sie hätten weggeschaut und gestöhnt oder geseufzt. Ich denke darüber nach, was wohl passiert wäre, wenn die, sagen wir, sechs oder mehr Personen einfach aufgestanden wären. Einfach nur aufgestanden. Sechs, acht oder zehn gegen zwei? Sich vielleicht vor das Kind gestellt hätten. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten hätte. Wir kennen das vielleicht alle: Wir stehen im Fahrstuhl, jemand kommt herangeeilt und will noch mitfahren – aber wir schalten nicht rechtzeitig. Vielleicht drücken wir noch den Knopf, um die Tür aufzuhalten, aber es ist zu spät. Und auf solche Situationen wie jene in der S-Bahn sind wir einfach nicht vorbereitet.
Wieder mit Bad Religion gesprochen: Sometimes truth is stranger than fiction.
Und diese Wahrheit macht uns Angst.
Doch nicht bei uns!
Ich sehe wieder aus dem Fenster des IC. Wir sind jetzt hinter Spandau im Speckgürtel. Es ist so neblig, dass ich keine zwei Meter weit sehen kann. Der Herbst kündigt sich an.
Ich denke, auf Angst folgt nicht nur im Fall des erwähnten Schubsens Wut. Ich bin überzeugt, dass Angst und Unsicherheit eine Hauptquelle für Wut und Hass sind. Auch Fremdenhass. Das Fremdwort dafür lautet Xenophobie. Wie Homophobie – wörtlich: die Angst vor Homosexualität oder vor dem Fremden. Was macht uns mehr Angst als das Fremde, Unbekannte?
Als Pegida in Dresden aufmarschierte, sagte ein Politiker (oder war es ein Politikwissenschaftler?), dass das in Berlin eine andere Situation ist. Hier wissen wir, mit wem wir es zu tun haben. Stimmt. Es sind doch meist diejenigen, die schlecht über die Fremden reden, aber nicht mit ihnen. Gar keinen Kontakt haben.
„Das steht doch im Koran!“ Hast du ihn gelesen? „Nein.“
Macht nichts – leider. Wie Goethe sagte: Einen Spötter hält man mit Argumenten so fest wie einen Aal beim Schwanz. Und Fremdenhass ist ein weit komplexeres Phänomen als bloße Angst vor dem Fremden, mit sozialen Strukturen, individuellen Befindlichkeiten und kaum durchschaubaren Dynamiken. Wie auch immer, Pegida hätte es in Berlin jedenfalls schwerer gehabt, als anderswo. Aber vielleicht haben wir uns zu sehr darauf ausgeruht? Der alltägliche Kontakt zu Migrantinnen und Migranten sorgt dafür, dass wir gar keine solchen Schreckgespenster über sie ausbilden können, wie diese Leute, die den Koran nicht gelesen haben.
Wir, die wir keine Angst haben, sie anzusehen, mit ihnen zu sprechen. Da fällt mir eine Begebenheit ein, die schon ein paar Jahre her ist. Ich saß in der Straßenbahn und fuhr von der Greifswalder Straße Richtung Lichtenberg. Ja, Lichtenberg, verschrien als Nazigegend. Was nicht ganz stimmt, aber die Stimmung ist schon anders als auf dem Kreuzberg. Ich saß dort also und sah mir die Menschen an. Die Sonne schien und ich dachte, wie schön bunt (auch wenn meine bevorzugte Farbe Schwarz ist, mag ich bunt an anderen). Da saß eine junge Frau mit roten Dreadlocks (die sehr bunt angezogen war), zwei Männer mittleren Alters unterhielten sich auf Russisch über Zigarettenpreise. Eine dunkelhäutige Frau mit Kinderwagen stieg ein und die Russen und ein junger Student halfen ihr mit dem Kinderwagen. Irgendwie hatten alle gute Laune (auch das kommt in Berlin mal vor). An der nächsten Station stiegen zwei Personen ein: eine junge Frau mit Kopftuch, ich schätze, eine Araberin, und ein junger Mann mit Bomberjacke, Springerstiefeln und Glatze. Reflexartig war meine Vorsicht geweckt. Aufmerksam beobachtete ich ihn. Und die anderen. Sie nahmen ihn ebenfalls wahr, hatten vielleicht wie ich für einen kurzen Moment den Fluchtreflex, aber dann waren alle entspannt. Sie scherzten weiter miteinander – wildfremde Menschen unterschiedlicher Kulturen, verschiedenen Alters und Geschlechts, die nicht einmal alle dieselbe Sprache sprachen, verstanden sich.
Vielleicht kam es mir nur so vor, aber ich hatte den Eindruck, dass nach dem Einsteigen des Nazis dieses Gefühl des Wir noch stärker war. Es war, als stünde zwischen uns allen die Erleichterung in der Luft: Wir sind nicht allein. Er ist allein. Ich musste unwillkürlich lächeln. Die Russen lächelten zurück. Und unversehens traf mein Lächeln auch den Nazi. Er lächelte nicht zurück. Und dann sah ich den Ausdruck in seinen Augen, den ich nie wieder vergessen werde: Angst. Und plötzlich tat er mir leid.
Ja, ein in die enge getriebenes Tier ist gefährlich. Und ja, ich habe Angst. Und um mit unserem ehemaligen Bürgermeister zu sprechen: Das ist gut so. Es kann uns allen passieren, dass wir Zeugen werden, wie das junge Paar. Jeden Tag, in der Bahn oder anderswo. Das sollten wir nicht ignorieren. Aber: wir sind in der Mehrheit.
Es ist 6:30. Ich sehe wieder aus dem Zug. Der Nebel lichtet sich und ich sehe die Sonne aufgehen.
Wir sind nicht allein. Wenn wir einfach aufstehen, einfach nur aufstehen – vielleicht reicht das ja schon.