Bachtin, Tucholsky und ich

Oder: Sind wir nicht alle ein bisschen amö?

Kürzlich hatte ich eine Buchparty, sozusagen eine Party zur Geburt meiner Doktorarbeit. Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen Anwesenden für die lebhafte Diskussion bedanken und bei den Besitzern der Tucholsky Buchhandlung für die Räumlichkeit, in der das ganze stattfand. Kurt Tucholsky und Michail Bachtin. Eigentlich passen die beiden ganz gut zusammen. Bachtin mit seinen schwarzen „Kladden“, und Tucholsky mit seinem „Sudelbuch“. Und ich, die ich jetzt diesen Blogeintrag schreibe.

Vor allem aber: zwei liebenswerte Querulanten.

Während der Vorbereitungen für die Party fiel einmal das Wort „strange“. Ja, Philosophie ist manchmal etwas „strange“. Und wir sind „strange“. Der Mann, der Goethe rauchte. Und ich, die ich unbedingt über ihn schreiben wollte. Ich musste aber auch an David Bowies „Strangers when we meet“ denken: “I’m so thankful, cause we’re strangers when we meet.”

Bachtin und ich – zwei Fremde, zwei Andere, die sich begegnet sind.

„Strange“ heißt natürlich nicht nur „fremd“, sondern auch „merkwürdig“. Aber auch das passt, denn „merk-würdig“ ist eigentlich ein sehr schönes Wort. Darin steckt Auf-merk-samkeit. Und Würde. Nachdem ich einmal angefangen hatte, konnte ich die im wahrsten Sinne merkwürdigen Schriften dieses merkwürdigen Denkers nicht mehr weglegen. Aufmerksam gemacht hatte mich darauf mein Literatur-Professor Werner Röcke, der nicht müde wurde, von seinem „Säulenheiligen“ Bachtin zu schwärmen. Dann kam ich. Wie ich im Vorwort meines Buchs geschrieben habe: Wenn er Goethes Zauberlehrling wäre, wäre ich der Besen – Ich war nicht mehr zu stoppen!

Ein Gefühl geistiger Verwandtschaft hat mich dabei von Anfang an begleitet und ziert nun in Form eines Zitats den Buchdeckel: „Autonome Teilhaftigkeit und teilhaftige Autonomie“.

Aber was heißt das eigentlich?

Selbst ein Kollege, also jemand vom Fach, kommentierte den Titel nur mit: „Versteh’ ich nicht. Was soll das sein?“ Dabei ist es ganz einfach (auch wenn es eigentlich zweifach ist, oder sogar vielfach): „Autonome Teilhaftigkeit“, das sind – wir!

Eine Gemeinschaft, die aus (mindestens) zwei Teilen besteht, die zusammen mehr können als für sich allein, aneinander teilhaben, aber ohne ihre Individualität, ihren eigenen Willen aufzugeben, ohne zu verschmelzen. Bei Bachtin heißt es, dass sich zwei verschiedene Welten in unseren Augen spiegeln, wenn wir einander anschauen. Wir können uns annähern, aber nie dasselbe sehen. Ich bleibe ich und Du bleibst Du. Und das ist gut so. Ich versetzte mich zwar ständig in die anderen hinein, wenn ich überlege, welches Kleid ich heute anziehe oder ob das, was ich gerade gesagt habe, mein Gegenüber verletzt haben könnte. Aber jedes Mal muss ich am Ende aus dieser gedachten Perspektive des Anderen zu mir zurückkehren. Sonst wird es unangenehm – für mich und für die anderen. Bachtin spricht von der Nabelschnur des Selbstbewusstseins, an der ich immer an mir selbst hänge, auch wenn ich wie ein Luftballon in die Höhen der Abstraktion aufsteige – etwas, was wir Philosophierenden ganz gerne mal tun. Kant forderte, wir sollen anstelle eines jeden anderen denken. Und das ist oft ganz sinnvoll, damit ich eben nicht rücksichtslos handle: Würde ich wollen, dass die anderen mich so behandeln? Manchmal ist es aber auch kontraproduktiv. Bevor wir lange grübeln, was der Andere von uns denkt, warum nicht einfach fragen, wenn er doch vor uns steht? Wenn wir über das, was wir im je Anderen sehen, in einen Dialog treten, erschließen sich uns die beiden Spiegelungen, die zwei Welten, als zwei Facetten einer gemeinsamen Welt, die durch jede neue Perspektive etwas dazu gewinnt: das sind Wir.

Ein Symbol dafür ist das Yin Yang-Zeichen.

Ein Wort dafür ist: Freundschaft. Oder: Liebe.

Deshalb lasen wir einige Auszügen aus dem Kapitel über Tod und Liebe – das bisher immer die meisten Kontroversen hervorgerufen hatte. Nämlich mit der These, dass ich mich nicht selbst lieben kann. Nicht auf die Weise, wie ich andere liebe. Es gibt einen großen Unterschied zwischen uns. Die anderen kann ich vermissen, mich nicht (auch wenn ich manchmal gerne Urlaub von mir selbst hätte…): Ich bin immer mit mir. Ich bin identisch mit mir, nahe kann ich (gerade deshalb) nur den anderen sein.

Viel(falt) war das Thema des Abends. Und es war tatsächlich etwas mehr, als ich erwartet hatte – und zwar von allem. Erst einmal mussten zusätzliche Stühle geholt werden. Wahnsinn! Und die vielen Menschen hatten viel zu sagen. DANKE DAFÜR!

Wobei natürlich nicht alles glatt lief (das wäre ja auch langweilig…). Ich kann mich eben nicht nur selbst nicht lieben, sondern nun einmal auch nicht selbst moderieren (eine schöne Veranschaulichung, welche Folgen die fehlende Distanz zu mir haben kann): Wenn ich ein Dialogangebot bekomme, kann ich einfach nicht widerstehen. Wie gesagt, der Besen… Wobei auch nicht jeder Redebeitrag tatsächlich ein Dialogangebot war. Ja, es gibt auch immer Missverständnisse. Wie mit dem Amöbenmann. Er schien etwas ganz anderes zu erwarten (was ja eigentlich auch zum Thema passt). Das Problem war wohl, dass er selbst nicht wusste was. Zumindest hat er auf meine Nachfrage, was er denn wolle, keine Antwort gegeben. Stattdessen hat er behauptet, ich hätte etwas von Amöben erzählt. Nicht irgendeiner, nein: der allerersten Amöbe. Mir war (noch) nicht klar, wie er von Menschen (um die es mir ging) auf Amöben gekommen war. Dementsprechend endete der Dialog damit auch – zunächst. Später aber diskutierten meine Jungs vor dem Laden bei einer Zigarette angeregt darüber, was es für die erste Amöbe bedeutet haben mag, ganz allein zu sein. Da wurde auch die These der unmöglichen Selbstliebe wieder aufgegriffen. Zum Beispiel, dass die arme einzelne Amöbe nur Pornos von sich selbst gucken konnte. Es gab ja niemand sonst. Und wie langweilig das wohl war.

Erst viel später wurde mir klar, dass es sich um ein Missverständnis im ganz physikalischen Sinne gehandelt haben muss (einen Verhörer, sozusagen). Also, an dieser Stelle noch einmal laut und deutlich: Ich habe von den Anderen und dem Einzelnen gesprochen, nicht von Einzellern.

Schön, dass wir das geklärt haben. Und noch schöner, dass sogar jedes Missverständnis letztlich produktiv sein kann.

Das ganze brachte meinen guten Freund (den Veganer) nämlich auf die Lösung eines sehr aktuellen Problems. Mit Kant gesprochen: Es ist schon ein großer und nötiger Beweis der Klugheit zu wissen, wie man vernünftiger Weise gendern sollte. Die erste Amöbe war quasi präsexuell und zugleich alles in einem – ähm, alles in einer, meine ich. Damit war sie irgendwie auch nichts – hetero und homo geht ja schlecht so allein und bi schon gar nicht. Sie war einfach: amö. Nix mit X (also: ProfessX). Nein: amö! Klingt gut und sieht viel schöner aus als Innen und _innen und -Xe.

Ich bin jetzt Doktamö. Vielleicht werde ich irgendwann Professamö. Super!

Oder ich bleibe einfach ich.