Dies ist mein erster Blog-Eintrag aus Japan. Es hat eine Weile gedauert, aber sich auf eine fremde Kultur einzulassen braucht eben seine Zeit. Obwohl… fremd passt nicht ganz.
Anders trifft es eher. Und anders ist hier vieles. Vor allem: ich. Hier bin ich diejenige, die anders aussieht, sich anders verhält und deshalb werde ich auch schon mal angestarrt. Und oft zu Recht. Im „Fettnäpfchenführer Japan“, mit dem schönen Untertitel „Die Axt im Chrysanthemenwald“, tritt Herr Hoffmann aus Flensburg in 51 solcher Näpfchen. Und das ein oder andere davon habe auch ich schon mitgenommen. Obwohl die Menschen hier dann eher höflich bis betreten weg- als hinsehen. Angestarrt werde ich meistens einfach, weil ich anders aussehe. Das ist zwar gewöhnungsbedürftig, aber es stört mich kaum noch. Und ich denke, dass ein sehr dunkelhäutiger Mann in einem bayrischen Dorf auch angestarrt wird, selbst wenn er Nelson Müller heißt und fließend Deutsch spricht. Vielleicht sogar gerade dann.
Das Fremde und das Andere sind ambivalent, denn das Fremde kann die eigene Einzigartigkeit bedrohen oder bestärken. Meine Schülerinnen und Schüler in Berlin-Wedding haben mich immer als erstes gefragt, ob ich Ausländerin sei. Meine Antwort hat ihnen gar nicht gefallen: Ja, in allen Ländern dieser Welt, bis auf eines. Dies entspricht allerdings nicht unserer intuitiven Wahrnehmung: ausländisch sind immer die anderen. Und mit „uns“ meine ich alle Menschen, die keinen „Migrationshintergrund“ haben. Diese Kinder dagegen, die sich selbst nicht als Deutsche wahrnehmen, obwohl ihr Deutsch besser war als das in einer Eliteschule im schönen Zehlendorf, haben mich nachdenklich gemacht. Dass ausländisch immer die anderen sind, stellt komischer Weise gar keinen Widerspruch zu der Tatsache dar, dass wir in rund 209 von rund 210 Staaten selbst die anderen sind.
Um das am eigenen Leib zu erfahren reicht es natürlich nicht, eine Woche nach „Malle“ zu fliegen. Wer sich länger einer fremden Kultur aussetzt, wird nicht nur angenehme Erfahrungen machen. Das betrifft die erwähnten Blicke, aber auch Worte. Interessant ist, was wir finden, wenn wir „rassistische Namen für Deutsche“ bei Google eingeben. Im September 2017 finden sich folgende Suchergebnisse…
Die Frage danach, inwiefern „kolonialistische Straßennamen und Begriffe nicht unschuldig“ sind, wie der Tagesspiegel bemerkt, ist wichtig (solche Begriffe tragen insofern ein rassistisches Erbe, da sie auf eine Zeit und eine Haltung verweisen, die nun mal rassistisch waren – oder sind). Allerdings ist das nicht das, wonach ich gefragt habe.
Google geht hier selbst sehr „kolonialistisch“ vor, das heißt, die Perspektive entspricht völlig selbstverständlich der der (ehemaligen) Kolonialmächte. Ausländisch sind immer die anderen und daher betreffen „rassistische Begriffe für ausländische Menschen“ natürlich auch nur die anderen. Das funktioniert aber nur solange, bis du dann selbst die andere bist: die kraut in den USA, die gringa in Mexiko, im Kantonesischen bist du gwaipo, ein „Geistermensch“. Richtig nett ist das alles nicht, wie auch das japanische gaijin, obwohl es wie auch die höflichere Form gaikokujin eigentlich nur „Mensch von außerhalb“ heißt. Und natürlich hängt an diesen Namen keine Vergangenheit voller Erniedrigungen, Versklavung und anderer menschenverachtender Praktiken. Trotzdem: was für Waffen gilt, gilt auch für Worte. Menschen verletzen Menschen. Mitunter mit Worten.
Und das führt nicht selten zu Empörung. Besonders „weiße“ Menschen, europäischer oder nordamerikanischer Herkunft, sind geradezu entsetzt über den Rassismus in Japan. In einem Forenbeitrag empörte sich ein US-Amerikaner allein schon darüber, dass das Wort gaijin weiße, schwarze und überhaupt alle nicht-japanischen Menschen in einen Topf werfe. Das ist in der Tat empörend. Dass eine Person, die alle anderen als gleichermaßen „anders“ wahrnimmt, sie auch gleichermaßen als „Menschen von außerhalb“ bezeichnet…
Über die höfliche und unhöfliche Variante ließe sich ja diskutieren. Aber das Ironische hier ist, dass dieser Empörte gar nicht merkt, dass er selbst das macht, was er kritisiert: alle anderen in einen Topf werfen und sich selbst für etwas Besseres halten. Oder zumindest für „nicht einer von den anderen“. Die Empörung darüber, dass gaijin keinen Unterschied macht zwischen „schwarz“, „weiß“ und allem, was es sonst noch so gibt, ist ebenso kolonialistisch wie die oben erwähnte Google-Perspektive. Das regt zum Nachdenken an. Über angemessene und unangemessene Empörung zum Beispiel.
Vor der Empörung, einer Reaktion, die sich gegen eine Normverletzung wendet, kommt oft Irritation: Darf der das? Hat sie das jetzt wirklich gemacht? Oder: Sehe ich richtig? Letzteres dachte ich, als ich das Auto auf dem obigen Bild das erste Mal gesehen habe. Es steht unweit von meinem Wohnheim mitten auf der Straße herum. Und niemand empört sich. In Deutschland wäre das wohl anders. Allerdings wies mein Mann mich darauf hin, dass unsere Irritation weniger von der Halbnacktheit ausgelöst wurde. Daran bin ich (leider) gewöhnt durch die immer wieder beklagte, aber doch irgendwie hingenommene Überflutung mit Sex und Gewalt in den deutschen Medien und überlebensgroße Brüste auf den allgegenwärtigen Venus-Erotikmesse-Plakaten in Berlin – in Japan undenkbar!
Die deutsche Empörung darüber, dass die Dame auf dem japanischen Auto für einen Europäer eher wie ein Kind aussieht, ist in Japan dagegen unverständlich, da sie innerhalb der japanischen „Niedlichkeitsästhetik“ jenseits der Unterteilung Frau/Kind steht. Diese kulturelle Feinheit missachtend hätten auch in den USA christlich-konservative Mütter wahrscheinlich schon längst eine wütende Kampagne gestartet und einen shitstorm ausgelöst, ein schönes neumodisches Wort für „Empörung in den sozialen Medien“.
Mit der Betonung auf Medien. Denn sozial ist Empörung immer. Ohne ‚die anderen‘ gibt es keine Empörung. Eine Norm oder eine Regel, mit der ich mich identifiziere, wurde verletzt. Und von wem? Von den anderen natürlich! Wir können uns über andere empören. Wir können uns auch gemeinsam mit anderen über etwas empören. Aber nicht über uns selbst. Nicht etwa, weil wir nichts Empörendes tun. Aber empörend sind immer nur die anderen. Das liegt daran, dass es einen grundlegenden Unterschied zwischen der Wahrnehmung der anderen und meiner Selbstwahrnehmung gibt.
Wenn eine andere Person eine mir wichtige Norm verletzt hat, empfinde ich Empörung darüber. Wenn ich selbst etwas ähnlich Schwerwiegendes getan habe, empfinde ich Scham. In beiden Fällen schreibe ich einer Person Schuld zu, nur dass diese Schuldzuschreibung im Falle der Empörung auf eine andere Person gerichtet ist und im Falle von Scham auf mich selbst. Und das fühlt sich sehr verschieden an. Wenn ich mich schäme, werde ich „ganz klein“, richte den Blick nach unten – und nach innen – und möchte am liebsten im Boden versinken. Die Richtung der Empörung ist entgegengesetzt, nach außen gewandt: Ich zeige metaphorisch mit dem Finger auf die andere Person oder fühle mich als könnte ich explodieren. Dieser leibliche Unterschied spiegelt sich im deutschen Wort. Es gibt eine Reihe von Konsonanten, die „Plosive“ heißen, und nicht von ungefähr. „P“ ist so einer. Das „Em“ ist der Sprung auf das Sprungbrett und mit dem „pö“ in der Mitte gehe ich im wahrsten Sinne des Wortes in die Luft.
Ich kann mich interessanter Weise auch fremdschämen, wenn die fragliche Person in einer Verbindung mit mir steht, zum Beispiel mein bester Freund sich daneben benimmt oder ein Landsmann beim japanischen Essen nicht nur zu ungeschickt ist, um mit Stäbchen zu essen, sondern das dann in obendrein nicht gerade beneidenswerter englischer Aussprache kommentiert mit einem: „Fork and knife are really an improvment!“ Und das habe ich mir nicht ausgedacht und auch nicht falsch verstanden, denn er zeigte generell nicht gerade viel Respekt für die japanische Kultur. Auch wenn die Fremdscham in diesem Moment überwog – theoretisch hätte ich mich auch empören können über diese Intoleranz und Überheblichkeit. Genauso, wie er es scheinbar empörend fand, mit Stäbchen essen zu müssen.
Ja, empörend sind immer die anderen. Und alle haben Recht.
Das spiegelt sich auch im englischen „righteous indignation“ – Empörung als „gerechter Zorn“ – oder im japanischen Wort „gifun“ (義憤). Das Interessanteste aber war für mich, dass alles, was ich gerade beschrieben habe, in Japan gar nicht stimmt. „Gifun“ (義憤) setzt sich zwar aus dem Kanji für Empörung: 憤 und 義 (gi) zusammen, was auf ein Rechts-oder Gerechtigkeitsempfinden verweist, und kann daher als „righteous indignation“ übersetzt werden. Aber dies ist gerade nichts, was wir in Japan in der Öffentlichkeit sehen. Die Unterscheidung zwischen nach innen gerichteter Scham und nach außen gerichteter Empörung, die für mich als Europäerin bisher selbstverständlich und intuitiv nachvollziehbar war, gilt hier nicht.
Das liegt unter anderem an der in Japan wiederum selbstverständlichen Unterscheidung zwischen öffentlich (tatemae 建前) und privat (honne 本音), die vielleicht auch dazu führt, dass das Bild auf dem Auto gar nicht empörend ist. In meiner Wahrnehmung ist die japanische Öffentlichkeit gewissermaßen asexuell, denn alles Intime wird in der Öffentlichkeit nicht gezeigt. Das gilt für (echte) nackte Brüste ebenso wie für Küsse. Werden Gefühle öffentlich gezeigt, durch Händchenhalten oder gar Küsse, werden sie nicht mehr als intim wahrgenommen, sondern als oberflächlich, künstlich, unecht. Wie die Brüste auf dem Venus-Messe-Plakat.
Da Empörung eine (auch) emotionale Reaktion auf die Verletzung einer Norm ist, mit der ich mich persönlich identifiziere, ist es vielleicht gar nicht so erstaunlich, dass sie nicht öffentlich gezeigt wird. Ein japanischer Kollege sagte, es sei durchaus eine starke, negative Haltung, die aber nach innen gerichtet ist. Und ein anderer sagte, dass es massenhaft Empörung, 怒り (ikari, eigentlich „Zorn“) über Nord-Korea in japanischen ICQ-Beiträgen gäbe, er aber noch nie jemanden etwas ähnliches hat sagen hören. Japanische Menschen empören sich demnach nur in sozialen Netzwerken. Vielleicht auch über Venus-Messe-Plakate. Vielleicht aber auch nicht. Zumindest zeigt hier in der realen Welt niemand mit dem Finger darauf, weder metaphorisch noch wörtlich.
Am interessantesten finde ich aber, dass deutsche Empörung, mit allem was dazu gehört, bösem Blick und tadelndem Zeigefinger, wiederum japanische Empörung auslösen könnte: Darf der das (mich böse angucken)? Hat sie das wirklich gemacht (mit dem Finger auf mich gezeigt)? Das öffentliche Tadeln und noch dazu verbunden mit öffentlich zur Schau gestellten Gefühlen stellt in Japan gerade eine Regelabweichung oder Normverletzung dar, auf die ein Japaner durchaus mit Empörung reagieren könnte. Nur dass ich davon dann eben nichts mitbekomme.
Empörung gibt es auf der ganzen Welt, aber worüber wir uns empören und wie wir uns empören, kann sehr unterschiedlich sein. Und mit „wir“ meine ich diesmal „wir Menschen“. Eine empörte Reaktion kann eine Person auf ihren Regelverstoß hinweisen und zur moralischen Besserung beitragen. Empörung kann aber ebenso „righteous“ im Sinne von selbst-gerecht sein. Oder kolonialistisch. Über solche empörende Empörung nachzudenken lohnt sich immer – und mal in die Rolle der Anderen zu schlüpfen kann dabei sehr hilfreich sein.