Macht Bildung glücklich?

Eine meiner Studentinnen hat sich kürzlich als Titel ihrer Bachelor-Arbeit die Frage ausgedacht: Macht Bildung glücklich? Ein schöner Titel. Und ein schönes Thema (es wird um Platon gehen). Aber plötzlich begann in mir selbst die Frage zu rumoren. Macht Bildung glücklich?

Herbert Schnädelbach, ein mittlerweile pensionierter Philosoph, sagte einmal zu Beginn einer Lehrveranstaltung zur Einführung in die Philosophie: Philosophie macht nicht glücklich. Daraufhin seien einige der neuen Studierenden aufgestanden und hätten die Vorlesung verlassen.

Ja, Philosophie macht nicht glücklich. Viele Fachfremde erwarten von mir, dass ich Ihnen den Sinn des Lebens eröffne, wenn sie mich in einer Kneipe oder auf einer Party in ein Gespräch verwickeln. Da muss ich sie jedes Mal enttäuschen. „Sinn des Lebens“ haben wir leider alle nicht studiert. Da wäre Monty Python noch ein besserer Ansprechpartner. Nein, wir haben so spannende Dinge wie Quantorenlogik gebüffelt oder in endlosen Vorlesungen Ausführungen über den Lebensweg und die Meisterhaftigkeit einzelner Philosophen gelauscht, im besten Falle noch so etwas mitbekommen wie feministische Philosophie oder angewandte Ethik. Aber ganz ehrlich: Die machen beide auch nicht glücklich. Die eine behandelt Themen von der Ungerechtigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse bis hin zu Gewalt gegen Frauen, die andere fragt, wann und warum die Todesstrafe oder Sterbehilfe gerechtfertigt sind.

Glücklich geht anders.

Und bei genauer Betrachtung ist es noch schlimmer. Wir machen nicht nur uns selbst nicht glücklich, nein: auch andere. Denn wir sind diejenigen, die immer das Haar in der Suppe finden. Und manchmal sogar, wie in der italienischen Variante des Sprichwortes, das meine italienische Freundin mir verraten hat, das Haar im Ei. Ein Haar in der Suppe zu bemängeln ist ja noch in Ordnung, da wurde gegen eine legitime Erwartungshaltung (eine Speise ohne physische Hinterlassenschaften des Servicepersonals) verstoßen und berechtigt Kritik geübt. Das sind im Kern auch Bereiche der in diesem Fall praktischen Philosophie. Wann ist Kritik gerechtfertigt? Sprichwörtlich immer ein Haar in der Suppe zu finden ist aber ziemlich anstrengend für die Kritisierenden und die Kritisierten. Und nicht selten schießen wir auch übers Ziel hinaus und finden das Haar im Ei, einen Fehler, der eigentlich gar nicht sein kann (sofern es sich nicht um Rührei handelt).

Bekritteln ist unsere Berufskrankheit, ganz klar.

Ein Kollege sagte einmal, dass das mit ein Grund ist, warum die Naturwissenschaften eher Fördergelder bekommen. Die finden alles toll, was die Kollegen und Kolleginnen machen und schreiben ihre Gutachten für Forschungsanträge entsprechend positiv. Bei uns klingt das anders (selbst wenn wir den Antrag eigentlich gut finden). Wir erinnern uns vielleicht alle an die „Willst-Du-mit-mir-gehen-Briefchen“ aus der Schulzeit.

Willst Du mit mir gehen, kreuze an:

  • ja
  • nein
  • vielleicht

Die philosophische Variante sähe so aus:

Willst Du mit mir gehen, kreuze an:

  • ja, aber…
  • nein, es sei denn…
  • vielleicht, und zwar wenn und nur genau dann wenn…

Bin ich vom Thema abgeschweift? Ging es nicht um die Frage, ob Bildung glücklich macht?

Ich bin nicht abgeschweift, weil für mich Bildung und Philosophie unmittelbar zusammenhängen. Das Wort „Bildung“ ist ein recht junger Begriff, der im so genannten pädagogischen 18. Jahrhundert wichtig wurde. Denker wie zum Beispiel Immanuel Kant und Wilhelm von Humboldt (das ist der ältere der beiden Brüder) haben damals Theorien zur Bildung aufgestellt. Eine Definition von Bildung ist, dass sie im Unterschied zur Erziehung ein gewisses Maß an Selbstständigkeit und Freiheit erfordert. Am Anfang der Erziehung stehen zunächst Fähigkeiten, die sich, wie Kant es nennt, „mechanisch“ einüben lassen. Bildung beschreibt aber einen Prozess, bei dem irgendwann auch Moral ins Spiel kommt und die Jugendlichen beginnen, das Lernen selbst zu lernen. Sich frei und ihren Anlagen nach zum Besten hin zu entwickeln – Kant sagt „auswickeln“, wie eine Blütenknospe – und, man glaubt es kaum: am Ende die Idee der Menschheit in der eigenen Person zu realisieren. Zumindest, wenn es nach Kant und Humboldt geht.

Das ist ganz schön viel verlangt.

Die Idee der Menschheit in meiner Person zu verwirklichen, das bedeutet nicht weniger, als all die Erwartungen, die an die gesamte Menschheit im Sinne des Humanismus gestellt werden können, in meinem Handeln zu verwirklichen: Intelligenz, Moralität, Geschmack. Ein guter, kluger, eben gebildeter Mensch sein.

Ich persönlich bin allerdings der Ansicht, dass das weniger idealistisch ist, als es scheint. Es beschreibt ein Ideal, dass anzustreben allein schon Erfolg genug sein kann. Und anstrengend genug ist es allemal! Am Ende von Goethes Faust singen die Engel: „Wer immer strebend sich bemüht, Den können wir erlösen.“ Genug durchgemacht und genug Unheil angerichtet hat Faust auf seinem Weg dahin aber auch. „Es irrt der Mensch so lang er strebt. Der Faust des 21. Jahrhunderts scheint eher das Motto zu haben: Es strebt der Mensch so lang er lebt. Und darüber hinaus, wie in Sokurows Verfilmung. Am Ende stolpert Faust durch eine der trostlosesten Landschaften und verkündet: „Weiter. Immer weiter!“ Aber wohin denn eigentlich?

Dieses Streben nach Bildung und nach Wissen kennzeichnet auch und insbesondere die Philosophie. Und  es scheint tatsächlich nicht gerade glücklich zu machen. Die wenigsten Studierenden wissen wohl, was das lateinische Verb studere eigentlich bedeutet: sich eifrig bemühen. Sie wissen aber sehr wohl, was ein Tinnitus oder ein Burnout sind.

Das Tragisch-Ironische an der ganzen Sache ist, dass es vor allem Humboldt um eine Verbesserung ging. Er wollte einen gleichberechtigten Zugang zum Studium und die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs unabhängig vom Bildungshintergrund und Einkommen der Eltern schaffen. Selbst aus dem Adel stammend, aber von Kants Schriften und dem neuen Wind, den die Französische Revolution mit sich brachte, schwer beeindruckt, wollte er etwas verändern. Sein Ideal war, dass die Schule die Kinder so vielfältig mit Themen und Methoden die Welt zu erkunden in Berührung bringen sollte, dass diese aus sich heraus nicht nur ihren jeweiligen Beruf, nein, ihre Berufung finden würden.

Das war auch nötig, nachdem die Ständegesellschaft abgeschafft war und der Beruf nicht mehr „vererbt“ wurde. Und nicht mehr das Portemonnaie des Herrn Papa sollte entscheiden, wer auf die Universität kam, sondern die Begabung. Diese wurde dann irgendwann tatsächlich zumindest in der Theorie fair geprüft, durch Einführung des Abiturs. Das Portemonnaie des Herrn Papa spielte natürlich weiterhin eine wichtige Rolle, denn Studienförderung im Sinne von BaföG gab es nicht. Und bis heute sind die Chancen keineswegs gleich und gerecht verteilt. Wer viel in die Bildung seiner Kinder investiert, über das staatliche Angebot hinaus, erhöht ihre Chancen auf sozialen Aufstieg. Das beginnt lange vor der Einschulung. Und fair ist das nicht. Aber mit Blick auf die Frage meiner Studentin muss ich feststellen: Glücklich macht es auch nicht. Weder diejenigen, die den Aufstieg nicht schaffen, noch die, die ihn schaffen.

Durch die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg ist auch ein Druck entstanden, dem die Eltern mit frühkindlicher Fremdsprachenförderung ab 2 Jahren und mehr Nachmittagsaktivitäten, als gesund sein kann, begegnen. Und die Kinder? Burnout mit Anfang 20 scheint schon schlimm genug. Aber es ist (schon wieder) noch schlimmer. Wir erziehen uns eine Gesellschaft von Narzissten und Narzisstinnen.

Im Zusammenhang mit dem einjährigen Trump-Jubiläum war ich vor einer ganzen Weile kurz bei einer Talkshow hängen geblieben (leider habe ich den Titel vergessen). Als ich aber über das Unglückmachen der Bildung nachdachte, fiel sie mir wieder ein. Dort sagte ein Erziehungswissenschaftler (oder war es ein Entwicklungspsychologe?), dass Trump eigentlich nur ein typisches Beispiel für den Menschen unserer heutigen (ich würde ergänzen: westlichen) Gesellschaft sei. Denn durch den enormen Leistungsdruck würde den Kindern vermittelt, dass sie nicht um ihrer selbst willen wertgeschätzt werden, sondern für eben diese Leistungen. Auf das Gefühl, nicht wertgeschätzt zu werden, reagieren Menschen mitunter mit einem überhöhten Ich-Anspruch. Wenn dieses Gefühl aber bereits in der frühen Kindheit so omnipräsent sei, dann führe das fast zwangsläufig zu einer pathologischen Form des Narzissmus.

Das Ideal dagegen sei es, wenn ein Kind das Gefühl habe, um seiner selbst willen geliebt zu werden, und nicht weil es so toll Klavier spielt oder schon mit fünf Jahren sein Eis auf Englisch bestellen kann. Ein Kind, das das Gefühl hat, um seiner selbst willen geliebt zu werden. Das müssten glückliche Kinder sein. Und sie müssten gute Chancen haben, halbwegs glückliche Erwachsene zu werden.

Hat Humboldts Idee zu einer noch ungerechteren, narzisstischen Gesellschaft geführt? Als Humboldtianerin denke ich, dass die liberale Idee der Möglichkeit zum sozialen Aufstieg nicht verkehrt ist. Im so geschimpften Neoliberalismus  dagegen ist aus dem Können ein Müssen geworden. Humboldt dachte an eine Gesellschaft, in der (möglichst) jedem und jeder ein Beruf nach den eigenen Interessen und Fähigkeiten offen steht. Das ist nicht identisch mit einer Gesellschaft, in der es keine Müllmänner und -frauen mehr gibt, sondern nur Jurist/-innen, Professor/-innen und Ärzt/-innen. Letzteres scheint allerdings die Vorstellung vieler heutiger Eltern zu sein. Und das mit den besten Absichten: „Wir wollen doch nur dein Bestes, Kind!“ Dabei vergessen sie, was für Humboldt das Wichtigste war: Individualität.

Macht Bildung glücklich? Ja und nein.

Sie kann sehr unglücklich machen, wenn der Druck ein gebildeter Mensch zu werden bereits bei 19-Jährigen Tinnitus auslöst. Sie kann aber dann glücklich machen, wenn ein Mensch tatsächlich das Gefühl oder auch die Möglichkeit hat, sich selbst zu verwirklichen.

Vielleicht ist die Menschheit in meiner Person einfach etwas zu viel verlangt. Ich selbst zu sein ist ja schon anstrengend genug. Aber manchmal auch sehr beglückend.